Frankreich am Beginn des Jahres 2020
Von Georges Hallermayer (nrhz)
In seiner Neujahrsansprache ließ Präsident Emmanuel Macron keine Zweifel daran, die Rentenreform durchzuziehen. Er erwarte einen „schnellen Kompromiss mit denen, die ihn wollen“. Autoritär und zynisch ignorierte er die Sorgen und Nöte im Lande. „Diese Missachtung werde der sozialen Bewegung Auftrieb geben“, so die „Humanite“ am 2. Januar 2020. Und die von „Le Figaro“ beauftragte Agentur Odoxa bestätigte am 3. Januar, das trotz der historisch langen Dauer des Konflikts und der schwierigen Lebensumstände 61 Prozent der Franzosen die Mobilisierung gerechtfertigt finden und nur 29 Prozent Macrons Projekt unterstützen. „Quitte ou double“, „Beenden oder verdoppeln“, eine Taktik aus dem Pokern, kommentierte die Tageszeitung „Republicain Lorrain“ die Lage. Macron wird zum einen mit Verschärfung der Repression antworten.
Zum ersten Mal seit Beginn des Arbeitskampfs wurden am 1. Januar 2020 Streikposten vor einem Bus-Depot in Nanterre, in Paris (XIVe) und in Saint-Denis von der Gendarmerie mit Tränengas attackiert, kein Zufall, wie die Betroffenen sagen. Und Macron wird zum anderen seine Bemühungen verstärken, die Streikfront zu spalten, die kompromissbereiten Gewerkschaften, als größte die CFDT, auf seine Seite zu ziehen. Seine dead-line wird er am 22. Januar im Ministerrat ziehen. Im Februar soll die Nationalversammlung seinem Projekt zustimmen und der Senat im März abnicken.
Die CFDT, die Gewerkschaft der Leitenden Angestellten und die Christliche Gewerkschaft sehen im Prinzip, die verschiedenen Rentensysteme in einem Punktesystem zusammenzuführen, kompromisswürdig. Den zentralen Aufruf vom 3. Januar haben sie nicht unterschrieben, der zum Generalstreik am 9. Januar aufruft. Selbst wenn nun „die eine Rente für alle“ durchlöchert, ein Dominostein nach dem anderen herausgefallen ist: Militärs und Feuerwehrleute, Piloten, Hostessen und Fluglotsen, Polizisten und Lehrer, zuletzt die Tänzerinnen der Pariser Oper, wenn man von den Politikern einmal absieht, deren Privilegien von vornherein unantastbar waren. Wird Macron die Verschiebung des Renteneintrittsalters auf 64, für die CFDT die „rote Linie“ opfern? Schließlich bliebe der Regierung eine weitere Stellschraube, die wohlweislich aus der öffentlichen Diskussion herausgehalten wurde, nämlich die Bewertung der Punkte – was in Deutschland die sukzessive Senkung auf 48 Prozent bewirkte.
Die Medien in Frankreich wie in Deutschland malen ein Zerrbild einer radikalisierten Minderheit von Eisenbahnern (sieben Prozent im Streik, aber ein Drittel der Lokführer, so France 24 am 1. Januar), die in Paris den Nahverkehr lahmlegen. „chiens de garde“, Wachhunde werden im Netz die bürgerlichen Medien genannt. Sie verschweigen, dass im ganzen Land nicht nur der Bahnverkehr bestreikt wird, sondern die gewerkschaftliche Solidarität in übergewerkschaftlichen Bündnissen „intersyndicale“ zusammengewachsen ist. „Die heutige soziale Bewegung ist das Glied einer Protestkette mit einer weitgehend beispiellosen chronologischen Ausdehnung“, so der Sozialhistoriker Prof. Stephane Sirot.
Quitte ou double“ gilt erst recht für die Protestbewegung. Sie hat viel zu verlieren, 300 Euro im Durchschnitt. Philipp. Martinez, der Gewerkschaftsvorsitzende der CGT bekräftigte die Linie der Bewegung im TV-Sender LCI: „Von Anfang an haben wir gesagt, dass dieser Text zurückgezogen werden muss, der in diesem Land die Armut anwachsen lässt.“ Er betonte auf BMF-TV am 1. Januar, um „die Engagiertesten nicht isolieren zu lassen“, hänge die Ausdehnung der Streikbewegung, von den Generalversammlungen der Arbeiter und von der Macht der landesweiten Manifestation am 9. Januar ab.
Um nur einige aktuelle Meldungen herauszugreifen: Großen Einkaufszentren werden Nadelstiche versetzt: So im burgundischen Chalon sur Saone und Macon, wie die Lokalausgabe von „Le Journal“ berichtete, wo Gelbwesten, CGTisten und andere Gewerkschafter den Verkauf unterbrachen, um gegen die automatisierten Kassen zu protestieren, die Geschäftszeiten ohne Personal zu später Stunde und an Wochenenden erlauben. Oder ihnen wird am Sonntag von CGT-Elektrikern und der NGO „Robins des bois“ der Strom abgestellt, wie vor Wochen der Präsidentenpalast.
600 Professoren und Ärzte an öffentlichen Krankenhäusern unterstützen mit der Drohung ihrer Demissionierung die Aktionen und Streiks, (FranceInfo vom 15. Dezember), wie sie zum Beispiel das Personal der Pariser Krankenhäuser seit 14.November durchhalten. Die Universitäten in Paris und Nanterre werden bestreikt, die Examen verschoben. (Le Parisien 5. Januar)
Sechs von sieben, konzentriert im Norden und Süden Frankreichs liegende Raffinerien sind blockiert, wie zum Beispiel die Raffinerie Total La Mede, aus der seit dem 4. Dezember kein Tropfen mehr kommt, wie „La Marseilleise“ am 2. Januars berichtete. Treibstoffmangel drohe auch in Paris, wie Emmanuel Lepine, Generalsekretär der CGT Chemie am 27. Dezember im kritischen TV-Sender „Le Media“ meinte. Denn auch die Dockarbeiter der Öl-Terminale streiken: Ab dem 7. Januar sind „spektakuläre Aktionen in den sieben großen Ozeanhäfen geplant, so Pascals Galeote, der Generalsekretär CGT bei GPMM. „Der 9. Januar ist auf nationaler Ebene zum „Tag der toten Häfen“ mit 24 Stunden Arbeitsniederlegung erklärt.“
„Quitte ou double“ gilt ganz besonders für die Kämpfenden an der Basis. Die junge Welt nahm am 3. Januar an einer Assemblee General (AG), einer Streikversammlung der Eisenbahner in Metz teil. Sie hatten als Streiklokal die Räume der Zugkontrolleure besetzt, im historischen Bahnhof von Metz, einem „Geschenk“ Kaiser Wilhelms. Auf den Anzeigetafeln nur wenige Züge, die Hälfte stehen im Departement seit Anfang Dezember still. Man merkt schon, dass die Sorge ums Geld Spuren hinterlässt. Schulterzucken, Familie, Freunde, Nachbarn helfen, es geht ans Ersparte, so die knappen Bemerkungen. Der 46jährige CGT-Vorsitzende im Departement und SNCF-Gesamtbetriebsratsmitglied Jean Riconneau gab den an die vierzig Anwesenden einen Überblick über den aktuellen Stand. „Nicht nur, dass sie uns 300 Milliarden (an gekürzten Renten) vorenthalten und damit das erwartete Budgetdefizit ausgleichen wollen, sie werden unser Rentensystem den Heuschrecken wie „Blackrock“ ausliefern.“ Sarkastisch erwähnte er, dass der Metzer Bahnhofsvorstand den Streikenden sogar den wartungsbedingten Ausfall von Lokomotiven unterschob. Er berichtete, das Busdepot der kommunalen TAMM werde bereits den 36. Tag bestreikt. Am 9. Januar treten auch die Busfahrer in Streik. Francis Alif von der Gewerkschaft FO berichtete, dass die Feuerwehrleute im Departement, die seit Monaten im Clinch wegen ihrer Arbeitsbedingungen liegen, eine Verlängerung des Streiks bis Juni beschlossen hatten. Yannick Gauthier von der Lehrergewerkschaft FSU erklärte, die Lehrerschaft werde nach dem Ende der Schulferien ab dem 7. Januar in Streik treten. Sie würden nach Kräften für die Busse nach Metz zur Manifestation am 9. Januar mobilisieren. Ein „gilet jaune“ der ersten Stunde, in bemalten Sandwichs gepackt und mit einer großen Glocke bewaffnet, erklärte seine Solidarität und berichtete von Behinderungen im Departement. In ganz Frankreich hätten die Präfekten vom 17. November 2018 bis zum 16. November 2019 531 Aktionen und Demonstrationen verboten.
Den Erlös eines Solidaritätskonzerts 1.600 Euro teilten sich per Handaufheben hälftig die Gewerkschaft Force Ouvriere (FO) und CGT. Die anwesenden CGTisten beschlossen brüderlich, ihren Anteil dem Kinderheim „Chalet Pierre Semard“ der ONCF (Orphelinat National des SNCF) zu spenden. Ebenso formlos beschlossen sie, ihren Streik bis zur nächsten AG fortzusetzen, wenn in ganz Frankreich die AGs tagen. Im Gespräch danach erklärte der 29jährige stellvertretende Vorsitzende der CGT Cheminot Metz Pierre Laurent (weder verwandt noch verschwägert mit dem früheren PCF-Vorsitzenden), dass zur heutigen Versammlung von den Hundert Aktiven viele fehlten, die nach Weihnachten Geld verdienen müssten, aber die kommende Woche wieder Streikposten stehen werden. CGT Metz partizipiert nicht am zentralen Solidaritätsfonds, das habe vor zwei Jahren zu Problemen geführt.
Befragt, wie Jean Riconneau die weitere Entwicklung sehe, sagte er: „Alle zwei Jahre eine große Welle von Protesten 2014 gegen den ersten Schritt der Privatisierung, der Trennung der Eisenbahn in drei Einheiten, 2016 gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts und 2018 gegen die Öffnung für die private Konkurrenz ab 2020. Wir hatten 36 Tage gestreikt… Unsere Bewegung hat eine historische Größe angenommen, was mich mit großem Optimismus erfüllt.“
„Quitte ou double“ – verdoppeln wir die internationale Solidarität. Hier ist eines der Solidaritätskonten:
Solidarite CGT Mobilisation
IBAN: FR76 4255 9100 0008 0028 5960 774
BIC: CCOP FRPP XXX
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