Droht der Ukraine ein Wirtschaftskollaps?

von Franz Krummbein (berlin-athen)

Die ukrainischen Probleme werden die westlichen Kreditteilzahlungen nicht regeln können. Diese Summen reichen kaum aus, um den Schuldendienst zu bedienen. Demnach wird Poroschenko einen eigenen Maidan – näher zum Winter hin – wohl kaum vermeiden können. Natürlich, wenn nicht schon früher etwas geschehen sollte.

Etwa 600 Unternehmen sind im Donbass seit Anfang der „Antiterroraktion“ der Behörden zerstört worden, teilt der Vorsitzende des staatlichen Fiskaldienstes Igor Bilous mit. „396 Unternehmen wurden im Gebiet Donezk, etwa 200 im Gebiet Lugansk zerstört. Das sind Konzerne, die nicht so schnell wiederhergestellt werden können“, erzählte er. Der materielle Schaden sei dabei sehr groß, weil es sich um eine große Industrieregion handelt. Für die Wiederherstellung sind Dutzende Milliarden US-Dollar erforderlich.

Die britische Zeitung „The Guardian“ veröffentlichte ein Interview mit friedlichen Bürgern, welche nicht aus den Städten wegfahren konnten, die heute die ukrainische Armee und die Kämpfer der Nationalgarde dem Erdboden gleichmachen. Die Bedingungen, so das Blatt, seien dort unerträglich: in den meisten Häusern gebe es weder Wasser noch Strom noch Gas, der Mobilfunk funktioniere mit Störungen. Der Artilleriebeschuss und die Luftangriffe hätten die Wasserwerke, die Stromleitungen und Gasleitungen zerstört. Allein die Eisenbahn habe durch die Kampfhandlungen Verluste in Höhe von 100 Millionen Dollar erlitten.

Die Zerstörung des ukrainischen Südostens ist nicht billig. Noch Ende Mai kalkulierten Experten, dass der Militäreinsatz ungefähr drei Millionen US-Dollar täglich kostete.

Der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk räumt zwar ein, dass die ukrainische Wirtschaft schwach ist, spricht sich aber nicht gegen die enormen Ausgaben für den Krieg aus. Er entsandte allerdings eine Kommission ins Donezbecken, damit sie den Militäreinsatz vor Ort inspiziert. Denn es gibt Hinweise darauf, dass das Geld nicht gerade zweckgebunden ausgegeben wird. Kürzlich beschwerten sich die Soldaten beispielsweise über kugelsichere Westen von schlechter Qualität. Und die zuvor aus den USA gelieferten Verpflegungspakete für die Armee waren sofort in ukrainischen Onlineshops erhältlich.

Das Geld für den Militäreinsatz stammt aus verschiedenen Quellen, darunter von Oligarchen wie Kolomoiski und Poroschenko mit ihren Assets. Bis vor kurzem waren auch Achmetow und Kutschmas Umfeld mit dabei. Es gibt auch Hilfen westlicher Länder.

Die Nachrichten über den Zustand der ukrainischen Wirtschaft sind kaum weniger schlimm als die Meldungen vom Kriegsschauplatz im Südosten. Die Wirtschaft der Ukraine ist in einem Kollapsstadium. Der allgemeine Zustand heißt Krise. Experten klauben nicht einmal irgendwelche einzelnen Zweige heraus. Hier seien nur einige genannt. Die Gold- und Devisenreserven der Ukraine verringerten sich allein im Juni um fünf Prozent. Die ukrainischen Betriebe haben enorme Einbußen, die im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres um das Fünffache gestiegen sind. Die Aussaat erlitt in diesem Jahr ein Fiasko, hauptsächlich wegen der um 35 bis 40 Prozent gestiegenen Treibstoffpreise. Das Brot wurde um 30 bis 70 Prozent teurer, andere Lebensmittel um das Zwei- bis Dreifache. Das Gas werde für die Heizungsperiode nicht ausreichen, teilte man beim Gasversorger „Naftogaz Ukrainy“ mit. Man müsse mindestens noch sechs Milliarden Kubikmeter Gas in die Reservoire pumpen, hieß es.

Der Griwna-Kurs (ukrainische Nationalwährung) ist um ein Drittel gefallen. Internationale Rating-Agenturen, darunter Standard & Poor’s, sagen zum Jahresende den Rückgang des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts um mehr als sieben Prozent voraus.

Jeder Vertreter der Geschäftswelt, der irgendwo viel Geld anlegen will, wird zehn Mal darüber nachdenken und überprüfen, ob es sich lohnt, sein Kapital zu riskieren. Unter solchen Bedingungen Geld zu riskieren, wird niemand wagen. Schließlich gibt es in der Welt eine Vielzahl anderer Staaten, wo die Wirtschaftslage viel günstiger für Investitionen ist.

Ja mehr noch: Der Kurs, den Kiew eingeschlagen hat, nämlich der Abbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, ist für die Ukraine verhängnisvoll. Selbst der Internationale Währungsfonds, der früher freigebig Kredite an die Ukraine vergeben hat, steckt jetzt in einem Dilemma. Kiew braucht neue Tranchen, aber wird es die Schulden zurückzahlen? In der jetzigen Situation gibt es dafür keinerlei Garantien. Dabei sei die Orientierung auf westliche Partner ein qualvoller und langwieriger Prozess.

Das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union wird den führenden Ländern Europas zusätzliche 0,5 bis zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts bringen. Aber was wird die Ukraine dafür erhalten? Die Experten sehen vorerst mehr Nachteile als Vorteile. In der nächsten Perspektive ist das die Vernichtung des ukrainischen Maschinenbaus und der Chemieindustrie.

Die ukrainische Industrie besitzt ihre Nuancen. Eine wichtige Nuance ist ihre Orientierung an Russland. Doch für die EU stellt die Industrie der Ukraine kein besonderes Interesse dar, eben weil in Europa alle Industriezweige vertreten sind. Und zudem auf einem hohen technologischen Niveau.

Die westliche Wirtschaft hat stets Probleme mit dem Absatz, nicht aber mit der Produktion. Die ukrainische Wirtschaft interessiert die EU deshalb wenig. Ich denke nicht, dass sich die ukrainische Wirtschaft jenen Forderungen anpassen kann, die ihr die westeuropäischen Standards stellen werden.

Nach der Loslösung von der russischen Wirtschaft habe ich nicht gesehen, dass die Ukraine irgendwelche Anstrengungen zur Modernisierung und Vervollkommnung ihrer nationalen Wirtschaft unternommen hätte. Und das, wo sie sich die ganze Zeit unter recht günstigen Bedingungen befand: hinsichtlich ihrer Energieversorgung sowie der gegenüber der Ukraine von Russland gemachten entgegenkommenden Schritte. Wenn die Ukraine selbst unter solchen Bedingungen nur wenig für ihre eigene Industrie tun konnte, so denke ich nicht, dass es ihr unter den harten europäischen Bedingungen gelingen wird, sehr viel zu tun.

Mehr noch, der Aufschwung und die Entwicklung der ukrainischen Industrie sind für die EU nicht von Vorteil. Das einzige, was Brüssel von Kiew verlangt, ist die Lieferung von Rohstoffen und Halbfabrikaten: also von Kohle und Metall. Was die Nahrungsmittelindustrie und den Maschinenbau betrifft, so werde die Produktion dieser Zweige in der EU einfach nicht gefragt sein.

EU hat eine eigene Produktion, ihre Qualität ist höher. Ja, die ukrainische Produktion ist billiger, allerdings sind die europäischen Waren so konkurrenzfähig, dass sie die ukrainischen einfach erdrücken werden. Was den Maschinenbau betrifft, die Ukraine produziert gar nicht so viel: Eisenbahnwaggons, Landtechnik… Aber das alles gibt es auch in Europa. Und zwar von noch höherer Qualität.

Allerdings sind Millionen Bürger der Ukraine im Maschinenbau beschäftigt. Der blitzschnelle Rückgang des Produktionsvolumens zieht unweigerlich Entlassungen von Mitarbeitern und die Verkleinerung von Löhnen und Gehältern nach sich. Die internationalen Finanzorganisationen prognostizieren, dass das Bruttoinlandsprodukt des Landes bis Jahresende um sieben Prozent abstürzen würde. Etwas anderes aber: Die Ukraine verwandelt sich, wie das von Europa und Amerika angepriesen wird, in einen kolossalen Absatzmarkt, vor allen Dingen für westliche Erzeugnisse.

Die ukrainische Industrie wurde verurteilt

Die Wirtschaft der Ukraine kann sich einstweilen noch irgendwie über Wasser halten. Nach Auffassung von Experten gelingt dies auf Kosten der alten Reserven. Doch für längere Zeit würden sie nicht ausreichen. Schon heute ist deutlich eine drastische Senkung des Lebensniveaus der Bevölkerung zu fühlen. Die Einkünfte der Menschen sind zurückgegangen, die sozialen Leistungen sind im Grunde genommen auf Eis gelegt worden. Besonders gelte das für die kommunale Wohnungswirtschaft und die Renten.

Nach Ansicht von Experten werden die jetzigen Machthaber bisher nur schlecht mit ihren Aufgaben fertig. In Schulden geraten ist man schon, wie man sie aber tilgen will, darüber sind bis jetzt keine realen Vorschläge eingegangen. Doch nicht genug damit: Das Land befindet sich im Zustand einer staatsbürgerlichen Konfrontation. Der Konflikt hat gerade die Regionen Donezk und Lugansk erfasst, welche traditionell als Wirtschaftslokomotiven auftreten. Das berechtigt denn auch zu pessimistischen Prognosen. Experten meinen, dass der Ukraine ein katastrophaler Rückgang in der Wirtschaft drohe. Die USA und die Europäische Union stellen Kiew natürlich Finanzhilfe bereit. Doch einstweilen bringe diese Unterstützung keinen besonderen Nutzen.

Die Hilfe, die vom IWF und den USA erwiesen wird, ist nicht groß. Sie reicht mit Mühe und Not aus, um die Schulden zu begleichen, doch für kaum etwas mehr. Das heißt für irgendwelche ernst zu nehmenden Infrastrukturbelange, für die Wiederherstellung der Wirtschaft reichen diese Gelder nicht aus. Gegenwärtig gibt die Regierung der Ukraine die Mittel im Großen und Ganzen für Rüstung aus. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich gerade um die Mittel handelt, die vom IWF und den USA bewilligt worden sind.

Die Politiker hinter dem großen Teich stellen genau so viel Geld bereit, damit es minimal ausreicht. Und sie unterstützen die Ukraine materiell nur dafür, damit Kiew den Willen Brüssels und Washingtons erfüllt, das heißt sie tun dies zu bestimmten Bedingungen und für konkrete Handlungen. Und außerdem: Wenn die EU und die USA der Ukraine Kredite gewähren, bringen sie das Land in eine Abhängigkeit, die mindestens fünf Jahre, wenn nicht das ganze Jahrzehnt fortdauern kann. Einstweilen aber sind die ukrainischen Statisten damit beschäftigt, die wirtschaftlichen Verluste zu registrieren. Der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes der Ukraine im ersten Quartal macht mehr als ein Prozent aus. Eine besonders große Senkung des Produktionsausstoßes, ein minus von mehr als 17 Prozent, ist im Maschinenbau zu verzeichnen, in der Land- und Forstwirtschaft macht der Rückgang, auf ein Jahr bezogen, fast 25 Prozent aus.

Ein weiteres Abenteuer im Staatsmaßstab – Ministerpräsident Arseni Jazenjuk versprach, die größte Kampagne der letzten Jahre zur Privatisierung von Staatseigentum durchzuführen. Die Ukraine ist nach europäischem Maßstab mit ihrer 43 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung ein recht großes Land. Es ist unschwer zu vermuten, dass in den privatisierten Betrieben schon bald Personalkürzungen oder sogar massenhafte Schließungen von Unterhemen einsetzen können. In diesem Fall werden sich die Ukrainer unweigerlich mit dem Problem der Arbeitslosigkeit konfrontiert sehen.

30 Dollar pro Person

Kiew ist kein selbständiges Subjekt der Geschichte. Die euroatlantischen Staaten, vor allem die USA, manipulieren Kiew, um eine Art Filter an der russischen Grenze einzurichten, ihre strategischen Möglichkeiten dieser Grenze zu nähern und ihren Einflussbereich möglichst weit nach Osten auszuweiten. Es liegt also nicht an Kiew, für welche Zwecke die Gelder ausgegeben werden. Wenn der Aufstand und die sogenannte Terrorgefahr nicht bekämpft werden, können die in Kiew nicht normal weiter existieren, denn die ukrainische Wirtschaft ist auf die östlichen Gebiete angewiesen.

Deshalb will die ukrainische Führung nicht ihren eigenen friedliebenden Erklärungen folgen. Sie will weder die Sozialleistungen erhöhen noch ihre Verschuldung für russisches Gas begleichen. Stattdessen reduziert Kiew den Stromverbrauch und die Staatsausgaben. Diese Politik schadet vor allem den Normalverbrauchern: Im kommenden Winter werden sie frieren – unabhängig davon, ob sie die Regierung unterstützen.

Die neuen Kiewer Behörden hoffen scheinbar nur auf die Hilfe des Westens. Der IWF hatte im Mai der vom Staatsbankrott bedrohten Ukraine ein Rettungspaket in Höhe von 17 Milliarden US-Dollar zugesagt. Um eine Finanzhilfe des IWF zu bekommen, mussten sie bereits geplante Ausgaben kürzen – sie kürzten die Zahl der aus dem Etat zu bezahlenden Arbeitskräfte, sie froren die Löhne und die Sozialgelder ein, sie erhöhten die Tarife für Gas, Heizung und Strom bei einer Abwertung des Griwna. Und das sei erst der Anfang, es werde noch schlimmer kommen.

Der Staat wird nicht genug Steuern einnehmen. Dementsprechend werden Lehrer, Ärzte und andere nicht das ihnen zustehende Gehalt bekommen. Sieht man von allem Politischen ab, so ist die Ukraine bankrott. Das Land kann nicht ohne äußere Finanzierung leben. Allein in diesem Jahr schuldet die Ukraine, um das negative Saldo ihrer Zahlungsbilanz zu decken, 20 Milliarden Dollar – das heißt, jenen Kredit, den sie vom IWF bekommen wird.

Den wachsenden Haufen sozialer Probleme will die ukrainische Regierung ebenfalls mit westlicher Unterstützung regeln. Die Weltbank hat der Ukraine eine Anleihe in Höhe von 300 Millionen Dollar versprochen. Bei der Bank erklärt man, die Gelder werde man verwenden zur Erweiterung zielgerichteter Programme für die soziale Unterstützung der am wenigsten geschützten Bevölkerungsschichten.

300 Millionen Dollar – berücksichtigt man, dass zu den Minderbemittelten in der Ukraine etwa zehn Millionen Menschen gezählt werden können, so ergeben sich ganze 30 Dollar pro Person. In der Ukraine kann man die Frage, ob eine konkrete Familie zu dieser oder jener Kategorie gehört, heute nicht eindeutig beantworten. Die Summe ist viel zu klein, um damit irgendeine reale Unterstützung zu erweisen.

Alle diese Probleme werden die westlichen Kreditteilzahlungen nicht regeln können. Diese Summen reichen kaum aus, um den Schuldendienst zu leisten. Demnach wird Poroschenko einen eigenen Maidan – näher zum Winter hin – wohl kaum vermeiden können. Natürlich, wenn nicht schon früher etwas geschehen sollte.

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