Die Wahrheit über das „Sofagate“ von Ankara

von Thierry Meyssan (voltairenet)

Zu Unrecht wurde in der Presse der protokollarische Vorfall in Ankara als Demütigung der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, durch Präsident Erdoğan dargestellt. In Wirklichkeit hat er in Absprache mit dem Präsidenten des Rates der Union, Charles Michel, versucht, diesen auf das nichtexistierende Amt des Präsidenten der Union zu heben.

Die Nachrichtenagenturen haben Bilder vom Gipfeltreffen EU/Türkei am 6. April 2021 in Ankara weit verbreitet. Hier ist zu sehen, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, empfängt. Es gibt nur zwei Sessel für drei. Madame von der Leyen, nachdem sie eine Weile gestanden hat, wird sich auf ein Sofa setzen.

Die europäischen Medien haben diese Bilder als Beleidigung der Europäischen Union durch den türkischen Autokraten interpretiert. Einige sahen darin eine Bestätigung seines Machismos. Dies ist jedoch völlig falsch und verschleiert ein ernstes Problem in der Europäischen Union.

Das Gespräch hätte in Brüssel stattfinden sollen, und Präsident Erdoğan hat alles dafür getan, dass es zu Hause in Ankara stattfindet. Es wurde telefonisch von den Protokolldiensten der beiden Vertragsparteien vorbereitet. Die Anordnung des Empfangsaals entsprach den Anforderungen der Europäischen Union. Es war nicht Präsident Erdoğan, der Ursula von der Leyen erniedrigen wollte.

Um zu verstehen, was geschehen ist, muss man das Ereignis in den Kontext der Entwicklung der Institutionen der Union stellen.

Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs (25. März 2021)

Am 25. März, also 13 Tage vor dem Gespräch in Ankara, fand der Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs statt. Wegen der Covid-Epidemie war das Treffen nicht physisch, sondern per Videokonferenz. Es versammelte die 27 Staatschefs unter dem Vorsitz von Charles Michel, plus ihre wahre Führer: den Präsidenten der Vereinigten Staaten Joe Biden [1]. Er hat unmissverständlich bestätigt, dass Washington eine starke Europäische Union brauche, die es befehlen kann. Er hat mehrere Anweisungen gegeben, einschließlich der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zur Türkei trotz der bestehenden Streitigkeiten (Abgrenzung der Grenzen im östlichen Mittelmeer; militärische Besetzung Zyperns, Des Iraks und Syriens; Verletzung des UN-Embargos gegen Libyen; religiöse Einmischung in Europa).

Präsident Trump hatte zwar die Absicht, die imperialen Beziehungen der USA durch Handelsbeziehungen zu ersetzen. Er hatte sowohl die NATO als auch die Europäische Union in Frage gestellt. Er hatte die Europäer vor ihre Verantwortung gestellt. Aber der Versuch, die Vereinigten Staaten wieder in die aus dem Zweiten Weltkrieg geerbte Organisation der Welt zu bringen, stieß nicht auf Widerstand. Alle europäischen Staats- und Regierungschefs finden es bequemer, ihre Verteidigung unter den „amerikanischen Schirm“ zu stellen und den Preis dafür zu zahlen.





Die Europäische Union wurde in mehreren Etappen errichtet.
 Ursprünglich, 1949, haben die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich ganz Westeuropa in ein ungleiches Bündnis, die NATO, gestellt. Sie wollten den Einflussbereich regieren, den sie mit der Sowjetunion ausgehandelt hatten. 1957 ermutigten sie dann sechs NATO-Mitgliedstaaten (einer davon militärisch besetzt), den Vertrag von Rom zu schließen, der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, den Vorläufer der Europäischen Union, bildete. Diese neue Organisation sollte einen gemeinsamen Markt strukturieren, indem sie von der NATO festgelegte Handelsnormen vorschrieben. Aus diesem Grund wurde die EWG rund um zwei Säulen ausgerichtet: eine Bürokratie, die Kommission, die für die Umsetzung der angelsächsischen NATO-Normen zuständig ist, und einen Rat der Staats- und Regierungschefs, der diese Beschlüsse im eigenen Land umsetzen soll. Dies alles unter der Kontrolle einer parlamentarischen Versammlung, die sich aus Delegierten der nationalen Parlamente zusammensetzt.
 Da dieses Instrument des Kalten Krieges gegen die UdSSR konzipiert wurde, wurde sein Zweck mit ihrem Zusammenbruch im Jahr 1991 in Frage gestellt. Nach vielem Hin und Her erzwang Washington eine neue Architektur: Außenminister James Baker kündigte vor der Abhaltung des Rates der westeuropäischen Staats- und Regierungschefs an, dass die NATO und die EWG, die als Europäische Union neu bezeichnet wurde, alle Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts mit Ausnahme Russlands akzeptieren würden. Die Institutionen, die für sechs Mitgliedstaaten konzipiert wurden, mussten reformiert werden, um mit 28, oder mehr, praktiziert zu werden.
 Als Präsident Trump beschloss, sein Land von seinen imperialen Verpflichtungen zurückzuziehen, dachten einige europäische Politiker daran, die Europäische Union zu einer unabhängigen und souveränen Supermacht nach dem Vorbild der USA zu machen, zum Nachteil der Mitgliedstaaten. Sie zensierten den Staatshaushalt Italiens und verklagten Ungarn und Polen. Aber sie stießen auf zu viel Widerstand und konnten die Kommission nicht in einen Superstaat verwandeln. Die Rückkehr des US-Paten mit Präsident Biden lässt einen neuen institutionellen Ausgang erkennen: Die Kommission würde weiterhin die immer zahlreicheren Nato-Normen in europäisches Recht umsetzen und der Rat, sie in nationales Recht umzusetzen, aber angesichts der Zahl seiner Mitgliedstaaten sollte eine Exekutivfunktion seinem Präsidenten (heute Charles Michel) zuerkannt werden.

Bis heute waren die Präsidenten der Kommission und des Rates gleichberechtigt. Wenn der Präsident der Kommission an der Spitze einer gewaltigen Bürokratie stand, dann war der Präsident des Rates eine unbedeutende Persönlichkeit, die nur dafür verantwortlich war, die Tagesordnung aufzustellen und Entscheidungen zu registrieren. Allerdings war keiner der beiden gewählt, sondern Beamter. Beide hatten protokollarisch den gleichen Status.

Charles Michel teilte nun seinem Gegenüber Recep Tayyip Erdoğan mit, dass er bestrebt sei, Superchef der Union zu werden, während die Präsidentin der Kommission, Ursula von der Leyen, nur ihr Super-Premierminister sei.

Charles Michel klammert sich an seinen Stuhl, während Ursula von der Leyen mit einem leichten „Humm!“ protestiert

Charles Michel war es, und er allein, der den „protokollarischen Zwischenfall“ in Ankara verursachte. Präsident Erdoğan war zu glücklich, ihm diesen Dienst zu erweisen, weil er damit die europäischen Unionisten gespalten hat. Wenn Sie sich die Videos genau ansehen, werden Sie feststellen, dass Charles Michel die Stufen des weißen Palastes hinaufsteigt, ohne auf Ursula von der Leyen zu warten, und dann auf den verfügbaren Sessel marschiert und sich daran festhält, anstatt Madame von der Leyen Platz zu machen oder den Saal mit ihr zu verlassen, wenn man ihnen keinen zusätzlichen Stuhl bringt. Wenn Sie seine Erklärung am Ende des Gesprächs lesen, werden Sie feststellen, dass er nicht einmal den Vorfall erwähnt [2]. Wenn Sie sich die türkischen Videos des gleichen Vorfalls ansehen, werden Sie feststellen, dass das Sofa, auf dem die Präsidentin der Kommission sitzt, einem anderen gegenübersteht, in dem der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu gemäß den Anweisungen des Europäischen Protokolls Platz nimmt. In der Tat gibt es in der Türkei keinen Ministerpräsidenten mehr, da das Regime einen Präsidenten nun besitzt. Herr Çavuşoğlu sitzt also zu Recht der europäischen Premierministerin gegenüber.

Es handelt sich nicht um einen diplomatischen Zwischenfall, sondern um den Versuch von Charles Michel, innerhalb der Union die Macht zu ergreifen, und zwar auf Kosten der Union. Die Schlacht hat gerade erst begonnen.

Thierry Meyssan

Übersetzung
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[1] „Präsident Biden nimmt am Gipfel des Europäischen Rates teil“, Übersetzung Horst Frohlich, États-Unis (White House) , Voltaire Netzwerk, 25. März 2021.

[2] „Rede von Charles Michel nach seinem Treffen mit Recep Tayyip Erdoğan“, von Charles Michel, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 6. April 2021.

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Die Wahrheit über das „Sofagate“ von Ankara
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2 Kommentare

  1. Wir müssen nur Eins in Betracht ziehen, und zwar: ¨Die Nato wurde gegründest um 1) die Soviet Union aus Europa rauszuhalten, 2) die USA drin zu behalten und 3) Deutschland zu kontrollieren (runterzuhalten) — Sir Blevins, englischer Top Diplomat der 40´er Jahre. ALLES andere ist Schall und Rauch.

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