Die Jagd nach dem Unerreichbaren

Robert C. Koehler

Im neuen Sicherheitsstaat wird nicht einmal der Müll in Ruhe gelassen werden.

„Terrorismus,“ so informierte uns die Chicago Sun-Times letzte Woche, „hat in Chicago und anderen Großstädten einen neuen Markt für eine Firma geschaffen, die vor etwa 14 Jahren begann, bärenresistente Müllcontainer herzustellen.“

Durchsichtige Plastik-Müllbehälter sind im Kommen! Sie kosten bis zu $900 pro Stück. „Die tödlichen Bombenattentate am Montag beim Boston Marathon zeigen, dass solche Behälter nötig sind für Ereignisse wie den Chicago Marathon der Bank of America,“ sagte ein Verkäufer der Firma, und ich bewunderte die Ausführungen über Sicherheit, die jetzt als Nachrichten bezeichnet werden. Wir werden über alles informiert außer über das, was wichtig ist.

Jedenfalls befinden wir uns den ganzen Tag über in tödlicher Gefahr, Terroristen könnten jeden Augenblick zuschlagen, aber wir haben Überwachungskameras und Metalldetektoren, Körperscanner, den PATRIOT-Act und jetzt durchsichtige Plastik-Müllbehälter, obwohl wir vielleicht auch durchsichtige Rucksäcke brauchen würden …

Und mir fiel ein, dass wir eigentlich dem Unerreichbaren nachjagen. Wir überlassen der Überwachungsbehörde immer mehr Raum, aber sind nicht im mindesten sicherer, als wir vor einem Jahrzehnt oder vor einem halben Jahrhundert waren. Auf jede aufsehenerregende Gewalttat folgen neue Sicherheitsmaßnahmen und Markteinführungen, die natürlich die Maßnahme in unser Alltagsleben einbetten und unterschwellig und ungreifbar Angst, Argwohn und soziale Entfremdung verstärken, die die amerikanische Gesellschaft charakterisieren, wobei sie mittlerweile die Ursachen der Gewalt – welche immer das auch sein mögen – gar nicht mehr ansprechen. Und der Krieg geht weiter.

In Massenmedien und Massenkultur gibt es keine „Ursachen.” Dieses Konzept ist einfach zu kompliziert, es sei denn, dass „illegale Einwanderung“ eine Ursache ist, oder „Al Qaeda“ eine Ursache ist. Oder dass undurchsichtige Müllbehälter eine Ursache sind.

Anders gesagt sind die einzigen „Ursachen,“ die unsere Gesellschaft anzusehen in der Lage ist, Außenprojektionen. Die Täter sind entweder böse Ausländer oder Quasi-Ausländer (Moslems), die ihre Anordnungen von einer zentralen Verschwörung von Amerika hassenden Fanatikern bekommen, oder es sind fanatische Einzelgänger (meist Weiße oder Asiaten), die aufgrund finsterer innerer Störungen töten. Das Einzige, was wir tun können, ist uns vor ihnen mit immer zunehmenden Sicherheitsmaßnahmen zu schützen, was natürlich unmöglich ist.

Was wir nicht tun können – auf keinen Fall, lassen Sie mich das sagen! – ist sie verstehen. Wir sind uns gegenseitig ein unheimliches Mysterium, und dabei muss es auch bleiben. Brian Jenkins, ein Terrorismusexperte der Rand Corp., sagte der Los Angeles Times: „Es gibt kein Röntgen, mit dem man die Seele eines Mannes durchleuchten kann.“

Jedenfalls noch nicht.

Die Agenda hier, unterwürfig hofiert von den Medien, ist die endlose Aufspaltung von Menschlichkeit in unverständliche Bruchstücke von „andere.“ Wir untersuchen die Motive von schlagzeilenfüllenden sozial Benachteiligten nur aus einer Position der Abgrenzung und vorgegebenen Objektivität heraus.

Auf diese Weise scheinen die Brüder Tsarnaev „dem biografischen Muster derjenigen zu entsprechen, die in inländische Terrorkomplotte seit den Attacken von 9/11 involviert waren,“ so der Artikel in der L.A. Times. Wie Jenkins ausführte, sind sie „junge, männliche, unzufriedene Konsumenten von radikaler Internetpropaganda.“

Als ich das las, fragte ich mich, ob er damit „America´s Army“ meinte, eine Videogame-Website, betrieben von der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika, die den Krieg für Kinder im Alter von 13 Jahren und darüber von negativen Aspekten befreit und romantisiert. Es ist ein Rekrutierungswerkzeug – eines der effektivsten, über das die Armee verfügt – mit acht Millionen Mitgliedern. Wie alle gewalttätigen Videospiele reduziert es Krieg und Gewalt auf ein ruhmreiches, folgenfreies Abenteuer mit dem Ziel, Heranwachsende zu überzeugen, dass sie ihre Zukunft der Militärbürokratie überlassen.

Gewaltpotenzial fliesst wie ein unterirdischer Fluss durch die menschliche Rasse. Nationalismus ist ein Mittel, um dieses Potenzial anerkannten Anliegen zuzuführen. Terrorismus, der die Taktik der politisch Machtlosen ist, greift für nicht anerkannte Anliegen auf denselben unterirdischen Fluss zu.

„Menschen greifen zu Gewalt aus ehrgeizigem Streben heraus oder um sich zu wehren, und je mächtiger sie sind, desto mehr Gewalt scheinen sie anzuwenden,“ schreibt Juan Cole in Common Dreams. Und so kommt es, so schreibt er, dass es der christliche Westen ist, der im 20. Jahrhundert 100 Millionen Menschen in zwei Weltkriegen und Jahrzehnten von kolonialer Unterdrückung hingeschlachtet hat, während amerikanische Rassisten herumschreien, dass Moslems von Natur aus gewalttätig sind. 

„Zu diesem massiven Blutbad kam es nicht, weil europäische Christen schlimmer oder anders als andere menschliche Wesen sind,“ schreibt Cole, „sondern weil sie die ersten waren, die den Krieg industrialisiert und ein nationales Modell verfolgt haben.“ 

Das Faktum der menschlichen Vorliebe für Gewalt sollte das zentrale Thema sein, wenn wir über Sicherheit nachdenken. Stattdessen „jagen wir das Unerreichbare,“ indem wir versuchen, jede mögliche Form, die die nicht anerkannte Gewalt vulgo Terrorismus annehmen könnte, zu überlisten, obwohl wir mehr als die Hälfte unseres nationalen Budgets für die gute Gewalt aufwenden, die den herrschenden Interessen dient.

Ich schlage nicht einmal vor, dass wir diese umfassende Tendenz zur Gewalt unterdrücken oder verurteilen, sondern dass wir sie zur Kenntnis nehmen, und dann fragen, wie wir uns nach einem Prinzip wie zum Beispiel der Goldenen Regel neu organisieren können. Vielleicht kann das nicht getan werden, aber so viel weiss ich, dass jede Diskussion über Sicherheit, die das ignoriert, eine bittere Farce ist.

Quelle: antikrieg

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