Die Eurokrise aus zukünftiger Retrospektive

Von Leonhard Knoll am 16. Juni 2012

Seit einer Reihe von Jahren haben Chronisten von Wirtschafts- und Finanzkrisen eine eigentlich beklagenswerte Hochkonjunktur. So wird der interessierte Leser immer wieder auf vergleichbare Muster hingewiesen, die beinahe an Bachs „Variationen über ein Thema“ erinnern, und sieht sich am Ende ein wenig erleichtert, denn ökonomisch schlechte Zeiten erweisen sich zwanglos als keine Exklusivlast des frühen 21. Jahrhunderts.

Andererseits zeigt jede Krise auch ihre idiosynkratischen Merkmale und so fragt man sich unwillkürlich, was zukünftige Chronisten der heutigen Eurokrise als wichtigste Eigenheit dieser wirtschaftlich wie politisch verheerenden Entwicklung erfassen werden. Kandidaten dafür gibt es wahrlich genug: Das trotz heftiger Kritik unverdrossene Durchziehen der Euro-Einführung, das alle Bedenken hintanstellende schnelle Wachstum der Eurozone bei gleichzeitig sehr großzügiger Auslegung des Maastricht-Vertrags sowohl für bestehende als auch für neu in den erlauchten Währungsclub eintretende Mitglieder, die Beziehung zur Finanzkrise 2008/09 … All dies erscheint durchaus nicht vernachlässigbar, dürfte aber von einem weiteren Punkt aus der Sicht zukünftiger Retrospektive noch in den Schatten gestellt werden: Die völlige Erosion der Sitten im Bereich wirtschaftlichen Handelns.

Dass sich ein demokratisch konstituiertes Land in Friedenszeiten durch nachgewiesenen Betrug den Eintritt in eine Währungsunion sichert, ist schon stark; dass dies nach Bekanntwerden von dieser Union achselzuckend akzeptiert wird, macht sprachlos; dass diese Union dem Betrüger darüber hinaus in wahnwitzigem Umfang hilft, die Basis des Betrugs zu verkraften und dabei die selbst auferlegten Regeln flagrant bricht, die Verleugnung eines wesentlichen Teils der Grundlagen stabiler wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit.

Damit aber nicht genug: Nachdem multilateral ein pseudofreiwilliger Vergleich vereinbart worden ist, wird schnell eine „Collective Action Clause“ nachträglich in Anleihebedingungen eingebaut, um diejenigen, die nicht „unter Zwang freiwillig“ auf einen erheblichen Teil ihrer rechtlich unbestreitbaren Ansprüche verzichten, ganz ohne Umschweife einer faktischen Teilenteignung zu unterwerfen. Als dann die für einen „freiwilligen“ Verzicht nötige Quote erreicht wird, denkt man gar nicht daran, es dabei zu belassen, sondern zeigt unverhohlen, dass der unbedingte Schnitt ins Vermögen aller Gläubiger die einzig intendierte Alternative war. Kronzeuge gefällig? Nun, dann betrachte man nur einmal den damaligen griechischen Finanzminister Venizelos, der sich von den Medien zitieren ließ, es sei “naiv” zu glauben, sein gesamtes investiertes Geld bei den nach griechischem Recht begebenen Papieren zurückerhalten. Von da ist es nur noch ein Katzensprung bis zur von anderer Seite nachgeschobenen Begründung, dass dieses Vorgehen nötig sei, um unsolidarischem Verhalten nicht zum Erfolg zu verhelfen.

An dieser Stelle wird man unversehens an das berühmte Bonmot von Carl Fürstenberg erinnert, Aktionäre seien dumm und frech. Dumm, weil sie ihr Geld anderen Leuten ohne ausreichende Kontrolle anvertrauen, und frech, weil sie Dividenden fordern, also für ihre Dummheit auch noch belohnt werden wollen. Jetzt sind es freilich nicht mehr die Aktionäre, die sich doch bitte möglichst schweigsam von ihren höchsten Angestellten ausplündern lassen sollen, sondern Anleger, die dumm genug sind, ihr Geld in europäische (!) Staatsanleihen zu stecken, und dann noch so frech, um nicht zu sagen unverschämt, auf der vereinbarten Bedienung ihrer Ansprüche zu beharren. Der Schuldturm ist Vergangenheit, der Gläubigerturm die Zukunft!

Da wundert es schon gar nicht mehr, dass nach den Wahlen die gerade unterzeichneten Verträge von neu ins Rampenlicht tretenden Parteien sofort wieder infrage gestellt und unverhohlene Drohungen in den Raum gestellt wurden, die bereits dramatisch reduzierten Schulden endgültig nicht mehr zu bezahlen, wenn man den unbestreitbaren Interessen Griechenlands nicht weiter entgegen kommt. Man darf hoch darauf wetten, dass schon bald andernorts unbestreitbare Interessen als Begründung für die Verweigerung von Schuldendienst ins Feld geführt werden, wenn dieses Verhalten auch nur mäßigen, aber immerhin erkennbaren Erfolg zeigt.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Staatspleiten hat es beliebig viele gegeben und Versuche, eigenem Laster und Versagen einen moralischen Anstrich zu geben, ebenfalls. Die neue und für eine unbestimmte Zukunft bedenkliche Qualität besteht darin, dass eine demokratisch legitimierte Regierung dieses Verhalten offen zur Schau trägt und ihre nicht minder demokratisch legitimierten Partner in der Eurozone dies allenfalls als Randnotiz goutieren. Bei allem Verständnis für die zahlenunterlegten Probleme der Währungsunion, deren Zehnerpotenzen eher an Astronomie als an Ökonomie erinnern, wird diese Erosion in ein ruinöses Wechselspiel einmünden: Einerseits würde im richtigen Leben niemand mit Leuten zusammenarbeiten, die sich wie die Repräsentanten Griechenlands aufführen, andererseits kann von gemeinen Bürgern wohl nicht mehr Anstand und Moral erwartet werden als von höchsten Staatsvertretern, noch dazu öffentlich und von höchstem Belang …

Momentan bleibt nur, die nächsten Entwicklungen einschließlich der unmittelbar bevorstehenden zweiten Wahl in Griechenland abzuwarten. Vielleicht setzt sich dort wie auch im Rest der Eurozone doch noch ein Rest an Verständnis für elementare Notwendigkeiten einer wirtschaftlichen wie auch politischen Ordnung durch. Immerhin hat der oberste griechische Steuerfahnder jüngst Kritik der IWF-Chefin Lagarde an den Verhältnissen in seinem Land bestätigt. Selbsterkenntnis ist bekanntlich der erste Weg zur Besserung und er ist nicht nur Griechenland sondern auch seinen europäischen Partnern zu wünschen, denn verschämtes Dulden ist im Ergebnis genauso verheerend wie unverschämtes Handeln. Was die zukünftige Retrospektive angeht, bleibt freilich dennoch die große Gefahr, dass die moralische Erosion als eigentliches Wesensmerkmal der Eurokrise in die Geschichte eingeht.

Quelle: wirtschaftlichefreiheit

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