Die erhoffte Gewichtsverlagerung im EU-Parlament hat begonnen

Von Dieter Farwick BrigGen a.D. und Publizist *)  (conservo)      

Bewertung der aktuellen Lage in der EU

Das endgültige Ergebnis und seine Folgen für die Machtverteilung im EU-Parlament – nicht Europa-Parlament – ist noch diffus, aber einige Konturen sind bereits zu erkennen:

# Die EVP von Herrn Weber und der Sozialdemokraten von Herrn Timmermans haben ihre gemeinsame absolute Mehrheit im Parlament verloren. Eine schnelle Entscheidung für wichtige Personalentscheidungen im Hinterzimmer – wie 2014 mit Juncker und Schulz – ist nicht mehr möglich.

Der Ratspräsident Tusk hat von den Regierungschefs den Auftrag bekommen, ein Personalpaket zu schnüren, das die vielfältigen – auch kontroversen – Interessen der Kandidaten für die Spitzenpositionen in der EU berücksichtigen soll: Biographien der Kandidaten, beruflicher Werdegang – einschließlich Regierungserfahrung, Alter, Geschlecht, geographische Rücksichtnahme, Stärken und Schwächen der Kandidaten, geopolitische Bedeutung des Entsendestaates, religiöse Orientierung, Fähigkeit zu Kompromissen, Schutz von kleinen Mitgliedsstaaten, Verständnis und Einsatz für Zukunftstechnologien.

Mit dieser Aufgabe wird das Spitzenkandidatenmodell zumindest aufgeweicht, auch weil die Regierungschefs die Entscheidung über den dem Parlament vorzuschlagenden Kandidaten nicht aufgeben wollen.

Bei dieser Entscheidung muss auch berücksichtigt werden, über welche „ Hausmacht“ der Kandidat im Parlament verfügen wird. Das große Ziel der Entscheidung über die Besetzung des EU-Präsidenten muss bleiben: die Wahl der Befürworter Weber und Timmermans („Ausradieren der Nationalstaaten“) für eine „tiefe Integration“ – für einen „Bundesstaat“ mit Brüssel als starkem Hauptquartier zu verhindern.

Das Ziel bleibt das „ Europa der Vaterländer“ mit stark verbesserter nationaler Souveränität: „Vielfalt statt Einfalt“.

# Um diese Hausmacht wird noch einige Zeit gekämpft werden. Die Gewichte einzelner Großfraktionen werden sich durch Zu- und Abgänge verändern. Am Ende wird es wieder ein Kompromiss sein – hoffentlich kein fauler.

# Es steht fest, dass die „EU-skeptischen“ Parteien Stimmengewinne verzeichnen, während die „Altparteien“ in den meisten EU-Ländern deutliche Stimmenverluste hinnehmen mußten, was zu der erhofften „ Gewichtsverlagerung“ führen kann.

# Dabei ist zu beachten, dass Abstände zwischen den konkurrierenden nationalen „Schwergewichten“ geringer als erwartet sind.

# Eine illegale Einflußnahme von außen wurde von keinem Land gemeldet, ist jedoch nicht ausgeschlossen.

# Nigel Farage läßt sich in Großbritannien als Sieger feiern – wobei noch niemand weiß, wie lange britische Abgeordnete im EU-Parlament verbleiben und welche Politik sie betreiben werden.

# Eine Überraschung ist sicherlich das Ausscheiden von Geert Wilders aus dem EU-Parlament – ein überraschender Rückschlag für das rechte Lager.

# In Italien hat die von Matteo Salvini geführte Lega-Partei alle Partner und Konkurrenten deutlich abgehängt. Er wird der EU-Kommission das Leben schwer machen. Er will die EU an ihre Wurzeln zurückführen. Er wird die Grenzen für Defizite nicht beachten. Italien wird von der neuen Kommission kaum bestraft werden. Salvani weiß, dass Italien „ too big too fail“ ist.

# Macron hat knapp gegen Le Pen verloren. Dennoch wird er versuchen, französische Interessen durchzusetzen – durch eine kluge „Bündnispolitik“.

# Die Abwahl des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz ist kein direktes Ergebnis der EU-Wahlen. Die Neuwahlen in Österreich im Herbst werden auch für die EU von Interesse sein. Kurz wird um sein Comeback kämpfen.

Bewertung der aktuellen Lage in Deutschland

# Ein Ziel wurde erreicht: Die „Abstrafung“ der beiden „Altparteien“ CDU und SPD.

Am deutlichsten sprechen die Zahlen für beide Parteien für den Niedergang, wobei der erstaunliche Zugewinn der CSU das Bild der CDU aufgehübscht hat. Bei den Wählern unter 30 Jahren erzielten: CDU 11 % und SPD 8 %. Ein Fiasko. Nur bei den Wählern über 60 waren die Zahlen etwas besser.

# Die AfD-Führung beklagt das schlechte Abschneiden mit 10,5 Prozent. Das schlechte Abschneiden ist der – teilweise – extrem voreingenommenen Medienlandschaft und der sog. “demokratischen Parteien“, die alle eine Zusammenarbeit mit der AfD ablehnen – zuzuschreiben. Für rd. 6 Millionen AfD-Wähler eine Diffamierung.





Der Blick auf die Ergebnisse der Grünen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sollte die AfD-Führung hoffnungsvoll stimmen. In Brandenburg und Sachsen wurde die AfD jeweils stärkste Partei, während sie in Thüringen knapp hinter der CDU auf dem zweiten Platz liegt. Die Grünen liegen in diesen drei Ländern knapp unter oder über 10 Prozent. Ihr Kampf um die frühere Schließung des Kohleabbaus wird ihnen wenig Stimmen bringen.

# Die Niederlage von CDU und SPD belastet die GroKo zusätzlich zu ihren ohnehin zahlreichen schweren Zerwürfnissen.

Laut Umfrage in der „Schwäbischen Zeitung“ vom 28. Mai 2019 spricht sich die Mehrheit der Befragten für ein Ende der GroKo aus. Was machen die Verantwortlichen beider Parteien? Sie beraten in Hinterzimmern.

Frau Nahles will die Flucht nach vorne antreten. Sie hat die Wahl zum Fraktionsvorsitz vom September auf Anfang Juni d.J. vorgezogen. Sie will „ Klarheit schaffen“ gegen die umlaufenden Gerüchte ihrer Abwahl. Vielleicht muss sie eines ihrer Ämter opfern.

Frau Annegret Kramp-Karrenbauer erweist sich als schlechte Verliererin. Vor und nach den Wahlen hat ihr „Krisenmanagement“ gegen die sich abzeichnende Hype für die Grünen versagt. Sie hat bei der Jugend, die plötzlich hofiert wird, viel Rückhalt verloren. Es wird ihr schwerfallen, einige Punkte zurückzugewinnen. Es ist daher kein Zufall, dass in der TV-Sendung „Hart aber fair“ am 27.5.19 öffentlich ihre Qualifikation zur Kanzlerin in Frage gestellt wurde.

Was wird aus der EU?

Sie wird abhängig sein von der tatsächlichen Gewichtsverlagerung im Parlament. Diese wird die Wahl des EU-Präsidenten entscheiden. Timmermans oder Weber ? Oder Margreth Vestager, die sich als Kommissarin im Kampf gegen die Mediagiganten Ansehen und Anerkennung erworben hat. Sie könnte die „lachende Dritte“ sein. Einige Bewertungskriterien sprechen für sie. Die übrigen Spitzenpositionen – Ratspräsident und Außenbeauftragte der EU – werden danach nach dem Proporz entschieden – wenn Matteo Salvini mit seiner neuen, großen Partei nicht dazwischen grätscht. Eines ist klar: Die Entscheidungsfindung in der EU wird schwieriger. Es kann zu Blockaden kommen, was die Bedeutung der EU weiter schmälern würde. Sie wird an Rückhalt in der Bevölkerung der EU-Länder weiter verlieren.

Was wird aus Deutschland ?

Diese Frage hängt eng mit der Frage zusammen, wie es mit der GroKo weitergeht. Sollte die GroKo vor den Herbstwahlen platzen, werden die sie tragenden Parteien weiter verlieren. Für die SPD wird die Gefahr wachsen, ihren Status als Volkspartei zu verlieren.

Im Osten haben sie ein Auswärtsspiel. Sollte die GroKo über die Herbstwahlen, die für zwei Länder bereits am 1.September d.J. stattfinden werden, hinaus zusammenhalten, wird die Zeit wegen der obligatorischen Sommerpause sehr eng. Für lange Strategiediskussionen fehlt die Zeit.

Was macht die Kanzlerin Merkel? Sie will ihre Haut retten.

Bereits bei den EU-Wahlen hat sie ihre Nachfolgerin und deren Crew im Regen stehen lassen. Im Wahlkampf war sie weitgehend abgetaucht. Warum soll sie diese Haltung ändern? Vielleicht hat sie sich verzockt und ihr angestrebtes Denkmal in der Geschichte Deutschlands zerstört. Ein Auswechseln von Gesichtern kann den „Altparteien“ nur bis nach den Wahlen helfen. Das gilt auch für die AfD, die an der „Marke 30 Prozent“ schnuppert. Gelingt es ihr, diese zu überschreiten, tappen alle Parteien, die jedes Zusammenwirken mit der AfD – auch Duldung – ablehnen, in die selbst gestellte Falle. Die AfD kann dann in aller Gelassenheit warten, bis es 3-4 Parteien gelingt, eine Regierungskoalition gegen die AfD zu bilden – mit einer geringen Halbwertzeit. Die Afd kann ihre guten Chancen noch erhöhen, wenn sie die unsicheren Kantonisten, die immer wieder einer jagenden Meute in den Medien Stichworte liefern, rechtzeitig vor den Wahlen aus dem Verkehr zieht.

Die Zukunft Deutschlands ist eng mit der der EU verknüpft. Zerbricht eine – noch – tragende Säule, bricht das hochverschuldete Kartenhaus EU zusammen. Und mit ihr der Euro. Ohne die lebensverlängernden Maßnahmen wären beide schon lange gescheitert. Die Hoffnung auf ein besseres „Europa der Vaterländer“ – einschließlich u.a. Großbritannien, Schweiz und Norwegen – wird zu neuen Visionen führen.                    (Stand: 30.5.19)

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*) Brig.General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.
Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.
Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.
In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt.
Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegenerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.
Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.
Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.
Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.
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Die erhoffte Gewichtsverlagerung im EU-Parlament hat begonnen
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2 Kommentare

  1. " # Eine Überraschung ist sicherlich das Ausscheiden von Geert Wilders aus dem EU-Parlament – ein überraschender Rückschlag für das rechte Lager. "

      Für welches Lager das ein Rückschlag ist, wird sich noch zeigen? Die Verbindungen des Herrn Wilders nach Israel sollten doch bekannt sein?

  2. Das Ergebnis der Eu-Wahlen für die AfD ist zu erwarten gewesen. Es werden auch zukünftig kaum über 14 – 1 5 % dieser Partei ihre Stimme geben. Das ergibt eine Analyse der dort publizierten Themen.

    Gravierend falsch z.B. ist jetzt das Hinterherlaufen mit Umweltschutzbekenntnissen. Damit wird man keine jungen Wähler erreichen. Die wählen lieber das grüne Original. Auch wenn das in den Orkus führen sollte. 

    Erst der krachende Bankrott der Sozis wird eine Chance bieten, den linken Realitätsverweigerern Stimmen abzunehmen. 

    Das Springen über jedes hingehaltene Stückchen zeigt Schwäche und mangelnden Mut. So etwas honoriert kein Wähler. 

    Höcke macht es richtig: er polarisiert und liefert keine Wischi-Waschi-Statements. Ganz oder garnicht patriotisch. 

     

    Ein Ex-Afd Mitglied der ersten Stunden.

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