Die Beziehungen Russlands zu den Ländern Europas

Wo noch vor wenigen Jahren von einer Landesgrenze kaum etwas zu spüren war, verbarrikadieren heute metallische Hecken und Stacheldraht-Verhaue den freien Verkehr. Das in der Realität an der Finnisch-Russischen Grenze aufgenommene Bild zeigt symbolhaft die heutige politische und wirtschaftliche Situation – nicht zum Vorteil Europas.

von Dmitri Trenin (globalbridge)

(Red.) Dmitri Trenin, der russische Politologe, hat nach jahrzehntelanger Zusammenarbeit mit westlichen Institutionen genaue Kenntnis der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, und dies wie kaum ein anderer. In einer ausführlichen Analyse beschreibt er im Folgenden, wie sich der Westen, insbesondere der europäische Westen, Russland als Feind ausgesucht hat, um – wie die Geschichte es immer wieder lehrt – mit einem externen Feind interne Spannungen zu überwinden. Und er zeigt auf, wie die Russen damit leben gelernt haben und wie sie in den nächsten Jahrzehnten darauf reagieren sollten. – Der ausführliche Artikel kann am Schluss sowohl in russischer Originalversion wie auch in deutscher Übersetzung als PDF heruntergeladen und bei Bedarf ausgedruckt werden. (cm)

Die Staaten der Europäischen Union und die europäischen NATO-Mitglieder sowie die ihnen nahestehenden Länder (der Kürze halber als „politisches Europa“ oder einfach „Europa“ bezeichnet) sind aktive Teilnehmer an einem indirekten Krieg gegen Russland. Darüber hinaus hat die Feindseligkeit Europas gegenüber Russland aufgrund der Erfolge der russischen Armee auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz und der Wiederaufnahme des russisch-amerikanischen Dialogs unter US-Präsident Donald Trump zugenommen und hält weiter an. Europa tritt nun nicht mehr nur als wichtigster politischer Fürsprecher und finanzieller Geldgeber des Kiewer Regimes sowie als Lieferant von Waffen und Munition für dieses auf. Es beginnt bereits mittelfristig aktiv Vorbereitungen für einen direkten Krieg mit Russland zu treffen – offiziell im Rahmen eines Szenarios zur „Abwehr der russischen Aggression gegen NATO-Staaten“.

Diese Besonderheiten im Verhalten des politischen Europas – des westlichen Nachbarn Russlands – erfordern eine genaue Betrachtung der Wurzeln dieses Kurses und die Ausarbeitung von Vorschlägen für die Formulierung einer russischen Strategie gegenüber den EU-/NATO-Ländern. Der vorliegende Text versucht, das aktuelle Paradigma der Beziehungen zu Europa zu definieren – sowohl unter den konkreten Bedingungen der Ukraine-Krise als auch im Rahmen der allgemeinen Konstruktion der russischen Außenpolitik, die der Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen zu neuen Machtzentren – den Ländern der Weltmehrheit – Vorrang einräumt.

Der Platz Europas in der heutigen Welt

Die Multipolarität der Welt, die in den 1990er Jahren noch ein Schlagwort war, ist in den 2020er Jahren Realität geworden. Neben den USA, China und Russland tritt Indien als neue Weltmacht auf. Der Einfluss einer Reihe dynamisch entwickelter Länder auf allen Kontinenten hat zugenommen: Brasilien und die Türkei, Saudi-Arabien und Iran, Indonesien und Südafrika. Im Gegensatz dazu erleben die Länder des politischen Europas, die infolge des Zweiten Weltkriegs ihre zentrale Rolle in der Welt und nach dem Ende des Kalten Krieges ihre strategische Lage verloren haben, derzeit einen Niedergang ihrer vergleichbaren wirtschaftlichen und finanziellen Macht sowie ihres politischen Einflusses in der Welt. Das Zentrum der Weltpolitik und -wirtschaft verlagert sich nach Asien, während Europa allmählich an den Rand der Welt rückt.

Parallel zum Rückgang des Anteils der westlichen Länder am weltweiten BIP sinkt auch der Anteil der EU-Länder innerhalb des kollektiven Westens: Die Europäische Union fällt immer weiter hinter die USA zurück. Der Anteil des Euro an den internationalen Zahlungen ist im Vergleich zum US-Dollar deutlich zurückgegangen, amerikanische Banken haben ihre europäischen Konkurrenten deutlich verdrängt. Von besonderer Bedeutung für die künftige Lage Europas ist der technologische Rückstand der EU gegenüber den USA im Bereich der künstlichen Intelligenz und anderer Spitzentechnologien. Vor dem Hintergrund des politischen und ideologischen Kurswechsels der USA unter Trump bleibt Europa eine Zone, in der der Liberal-Globalismus vorherrscht, der sich jedoch in einer tiefen Krise befindet. Nachdem die Europäische Union aus politischen und ideologischen Gründen das russische Angebot zur Schaffung eines „Großraums Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ abgelehnt und anschließend die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland fast vollständig zerstört hatte, sah sie sich mit der Gefahr einer Marginalisierung in der Weltpolitik und Weltwirtschaft konfrontiert.

Auch innerhalb der Europäischen Union findet eine Neuordnung der Kräfte statt. Hier haben die traditionell führenden Länder des Blocks – Deutschland und Frankreich – an Boden verloren. Ein weiteres großes europäisches Land, Großbritannien, hat die EU verlassen. Gleichzeitig hat der Einfluss Polens und einer Reihe kleiner Nachbarländer Russlands zugenommen, die sich durch eine offen antirussische Rhetorik auszeichnen. Es hat sich auch eine kleine Gruppe von Dissidentenländern gebildet, die sich offen gegen die „Generallinie“ Brüssels stellen und ihre nationalen Interessen verteidigen wollen. Dabei handelt es sich um Ungarn und die Slowakei sowie außerhalb der EU um Serbien und die Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina.

Angesichts der Ukraine-Krise ist auch das europäische Projekt selbst in Gefahr – insbesondere mangels klarer strategischer Ziele. Derzeit versuchen die europäischen Eliten – auf Ebene der EU-Führung und der Regierungen der Mitgliedstaaten – diese Krise zu nutzen, um ihre Wirtschaft (durch Militarisierung) zu reindustrialisieren, die innere Einheit der Union (durch politische und militärische Konsolidierung auf einer antirussischen Plattform) zu stärken und die internationale Handlungsfähigkeit der EU (vor allem in den Beziehungen zu den USA, Russland und China) wiederherzustellen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen werden aber erst in einigen Jahren sichtbar werden.

Europa und die Ukraine-Krise

Die Krise in den Beziehungen zwischen Europa und Russland, die sich seit Anfang der 2000er Jahre zusammengebraut hatte, kam im Herbst 2011 zum Ausbruch, als die Europäer nach Wladimir Putins Entscheidung, eine dritte Amtszeit als Präsident anzustreben, erkannten, dass die russische Führung fest entschlossen war, den Weg der Souveränisierung zu gehen. Die Hoffnungen Deutschlands und anderer Länder, Russland zu einem politisch kontrollierbaren Rohstofflieferanten der EU zu machen, wurden endgültig zunichte gemacht. Der Russische Frühling 2014 hat Europa gezeigt, dass Russland nicht nur in der Lage ist, seine Meinung zu äußern, sondern auch seine nationalen Interessen notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Die europäischen Regierungen waren selbst von der teilweisen Wiederherstellung Russlands als Großmacht schockiert. Sie begannen, ihre partnerschaftlichen Beziehungen zu Moskau aufzugeben und gemeinsam mit den USA die Ostflanke der NATO zu stärken.

Der Konflikt um die Ukraine entstand vor allem durch das Bestreben der EU-Staaten, die historisch engen Beziehungen der Ukraine zu Russland zu zerstören und die ehemalige Sowjetrepublik in eine Zone ihres Einflusses und ihrer Kontrolle zu verwandeln. Dabei hat die EU in ihrem Bestreben, die Ukraine zu „assoziieren“ und zu einem geopolitischen Puffer und neuen Feld für ihre wirtschaftliche Expansion zu machen, demonstrativ darauf verzichtet, die wirtschaftlichen Interessen Russlands in irgendeiner Weise zu berücksichtigen. Vertreter der EU-Staaten, die als Vermittler in den Verhandlungen zwischen dem damaligen ukrainischen Präsidenten W. Janukowitsch und der Opposition auftraten, haben die Garantien, die sie Janukowitsch gegeben hatten, aufgegeben und den verfassungswidrigen Staatsstreich von 2014 unterstützt. Die Staatschefs Deutschlands und Frankreichs, die 2015 die Minsker Vereinbarungen unterzeichnet hatten, räumten später öffentlich ein, dass sie dieses Abkommen nicht als Grundlage für die Lösung des innerukrainischen Konflikts betrachteten, sondern als Atempause, die Kiew für die anschließende gewaltsame Unterdrückung des Donbass benötigte.

Die Staats- und Regierungschefs der europäischen NATO-Staaten lehnten die russischen Vorschläge zur europäischen Sicherheit ab, die ihnen Ende 2021 von Moskau übermittelt worden waren. Mit Beginn der militärischen Spezialoperation (SMO) im Februar 2022 brachen die Länder der Europäischen Union und Großbritannien die normalen politischen Beziehungen zu Russland ab und verhängten nacheinander zahlreiche Wirtschaftssanktionen gegen das Land, wobei sie oft nicht den USA folgten, sondern ihnen sogar voraus waren. Alle Kontakte zu Russland wurden auf ein Minimum reduziert. Der Warenverkehr zwischen der EU und Russland ging innerhalb von drei Jahren auf einen Siebtel zurück. Im April 2022 hielt der damalige britische Premierminister B. Johnson die ukrainische Führung davon ab, den bereits ausgearbeiteten und in Istanbul paraphierten Vertragsentwurf zwischen Russland und der Ukraine zu unterzeichnen, und drängte Kiew mit Unterstützung des Westens zur Fortsetzung des Krieges. Seit 2022 haben die europäischen Staaten dem Kiewer Regime umfangreiche finanzielle, wirtschaftliche und militärische Hilfe gewährt, die je nach Standpunkt mit der Hilfe der USA vergleichbar ist oder diese sogar übersteigt.

Die Ursprünge des europäischen Verhaltens

Das Verhalten der europäischen Staaten im Ukraine-Konflikt zwingt uns, unsere noch in den Jahren des Kalten Krieges geprägte Haltung gegenüber Europa als einer bloßen Gruppe von Vasallen der USA, die den Willen ihrer Oberhoheit (in der Fachsprache «ihres Suzeräns», Red.) widerstandslos ausführen, grundlegend zu revidieren. Die europäischen Eliten haben beschlossen, den Ukraine-Konflikt als Vorwand für ihre Selbstbestätigung im Gegensatz zu Russland zu nutzen. Später, mit der Rückkehr von Donald Trump an die Macht, breitete sich das Streben nach Selbstbestätigung teilweise auch auf die derzeitige Washingtoner Administration aus. In diesem Zusammenhang wurde die in den 2000er Jahren entstandene Vorstellung von Europa als „gutem, nicht aggressivem Westen“ im Gegensatz zum „bösen Westen“ – den USA – widerlegt. Bei der Beurteilung der Gründe für dieses Verhalten Europas dürfen wir nicht vergessen, dass die europäischen Mächte im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege ausgelöst haben und dass die Eliten dieser Mächte für die jahrhundertelange Schande des Kolonialismus, Rassismus, Völkermord und Sklavenhandel sowie für die schwersten Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich sind.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass 500 Jahre lang, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, gerade die europäischen Staaten die Hauptgegner Russlands waren. Der erste Krieg zwischen Russland und Europa (damals bestehend aus dem deutschen Livland, dem polnisch-litauischen Commonwealth und Schweden) fand bereits im 16. Jahrhundert statt. Danach musste Russland mehrmals – zu Beginn des 17., 18., 19. und 20. Jahrhunderts – seine Unabhängigkeit gegen die Angriffe Polens, Schwedens, Frankreichs und Deutschlands verteidigen. Der verräterische Angriff Hitler-Deutschlands im Jahr 1941 stellte die physische Existenz Russlands in Frage; gegenüber unserem Volk verfolgten die Nazis eine Politik des Völkermords. In der Konfrontation zwischen Europa und Russland gibt es also nichts grundsätzlich Neues.

Nicht selten traten europäische Staaten gemeinsam gegen Russland auf. So war es 1812, als Napoleon Bonaparte nicht nur die Truppen Frankreichs, sondern auch die „zwölf Sprachen“ aus ganz Europa gegen Russland in Marsch setzte. Im Krimkrieg von 1853 bis 1856 trat eine Koalition aus Großbritannien, Frankreich, Sardinien und der Türkei gegen Russland auf, während Preußen und Österreich eine offen feindselige Haltung gegenüber unserem Land einnahmen. In den Jahren 1918-1920, während des Bürgerkriegs in Russland, entsandten Großbritannien, Frankreich, Deutschland und ein Dutzend anderer europäischer Länder Truppen in unser Land, um ihre geopolitischen Interessen zu verfolgen. Während des Zweiten Weltkriegs beteiligten sich neben der deutschen Wehrmacht auch die Streitkräfte der Satellitenstaaten und Verbände aus vielen eroberten Ländern und Gebieten an der Aggression gegen die UdSSR. Die Industrie fast ganz Kontinentaleuropas arbeitete für die deutsche Kriegsmaschinerie. Die Vereinigung vieler europäischer Länder zum Kampf gegen Russland ist nichts Neues.

Diese historischen Beispiele sollen nicht die These untermauern, dass Russland ein ständiges Opfer europäischer Aggressoren ist. Alle europäischen Länder standen ständig in Feindschaft und Krieg miteinander. Russland selbst führte aktiv Krieg gegen seine westlichen Nachbarn, oft initiativ und offensiv, und gewann dadurch neue Gebiete hinzu. Während der Napoleonischen Kriege, im Ersten und Zweiten Weltkrieg war Russland Teil von Koalitionen europäischer Staaten. Ein Rückblick ist notwendig, um zu verstehen, dass das derzeitige gemeinsame Vorgehen eines Großteils Europas gegen das isolierte Russland auf einer langen Tradition beruht. Europa hat eine Reihe von Anreizen, sich gegen Russland zu verbünden: die Beseitigung seines nächsten Konkurrenten, die Aneignung der reichen russischen Ressourcen und die Förderung der eigenen wirtschaftlichen und ideologischen Expansion.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Situation der bipolaren Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA verlor Europa stark an internationaler Bedeutung, gewann jedoch als Zentrum der geopolitischen Konfrontation an Bedeutung. Mit anderen Worten: Europa verschwand als Subjekt, gewann jedoch als Objekt staatlicher Rivalitäten außerordentlich an Bedeutung. Die osteuropäischen Länder wurden Verbündete (de facto Satelliten) der UdSSR, während die meisten westeuropäischen Staaten dem von den USA angeführten NATO-Bündnis beitraten. Millionen Soldaten aus Ost und West standen sich in der Mitte Europas gegenüber. Das Aufkommen von Atomwaffen garantierte faktisch die vollständige Zerstörung Europas im Falle eines Krieges zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Eine Reihe europäischer Politiker der Zeit des Kalten Krieges (Charles de Gaulle in Frankreich, Willy Brandt in der BRD, Politiker in Italien und Österreich) sprachen sich für eine Entspannung der internationalen Lage und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der UdSSR aus. Unter diesen Umständen entstand in der Sowjetunion das Bild der Osteuropäer als „jüngere Brüder“ im sozialistischen Lager und der Westeuropäer als friedliche, unschuldige Opfer der Konfrontation, die gegen ihren Willen (mit Ausnahme der atlantischen Kreise und des Militär-Industrie-Komplexes) gezwungen waren, dem politischen Kurs Washingtons zu folgen.

In der Phase der Entspannung (1970er Jahre) strebte Moskau danach, die territorialen und politischen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu festigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Westeuropa aufzubauen, um die Kriegsgefahr zu verringern, indem es die schwere Last der militärischen Konfrontation verringerte, Zugang zu modernen Technologien erhielt sowie die herrschenden Kreise der westeuropäischen Staaten für eine friedliche, für beide Seiten vorteilhafte und langfristige Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auf der Grundlage eines Interessenausgleichs zu interessieren. Diese Bemühungen führten zum Abschluss einer Reihe politischer und wirtschaftlicher Verträge und Abkommen und zur Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Jahr 1975. Teil der Strategie Moskaus war auch die geopolitische Erwartung, dass die Westeuropäer, nachdem sie sich von den friedlichen Absichten der UdSSR überzeugt hatten und Interesse an den wirtschaftlichen Vorteilen des Handels mit ihr gewonnen hatten, sich aus ihrer Position als Vasallen der USA befreien könnten. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht.

Das Ende des Kalten Krieges veranlasste die russische Führung, Ideen für ein europäisches Haus vorzubringen, ihre Bereitschaft zur Integration in die euro-atlantischen und (west-) europäischen Institutionen zu bekunden, gemeinsame Räume mit der Europäischen Union zu schaffen und eine „nahtlose“ Kommunikation und Zusammenarbeit im Rahmen eines Großraums Europa von Lissabon bis Wladiwostok anzustreben. Moskau ermöglichte den Deutschen die Wiedervereinigung durch die Übernahme der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik Deutschland, zog seine Truppen aus Osteuropa ab und gestattete den baltischen Sowjetrepubliken den bedingungslosen Austritt aus der Union und erkannte die innerhalb der UdSSR bestehenden Verwaltungsgrenzen als Staatsgrenzen an. Dabei strebte Moskau gleichberechtigte Beziehungen zur EU an, was die europäischen Eliten erzürnte. Das europäische Establishment, das sich über den Zusammenbruch der UdSSR freute, dachte nicht in Kategorien einer vollständigen Integration Russlands, sondern in Richtung einer Umwandlung des Landes in einen Rohstofflieferanten der EU, der nach den Regeln lebt, die für Moskau in Paris, Berlin und Brüssel festgelegt wurden.

Natürlich sind die Beziehungen zwischen Russland und den europäischen Ländern nicht nur durch Kriege, Konflikte und Widersprüche geprägt. Aber wir dürfen diese schwere und tragische Erfahrung nicht vergessen.

Gründe für die Aggressivität Europas im Ukraine-Konflikt

Die derzeitige antirussische Politik Europas hat nicht nur allgemeine Gründe, sondern auch konkrete Ursachen.

An der Schwelle zum Jahr 2020 befand sich die Europäische Union in einer Zielkrise. Das ursprüngliche Ziel der europäischen Integration – die Verhinderung neuer Kriege zwischen den europäischen Nationen – war bereits während des Kalten Krieges erreicht worden. Das nächste große Ziel nach dem Ende der Blockkonfrontation war die Vertiefung der europäischen Integration und die Erweiterung der EU. Diese Aufgabe war bis Ende der 2010er Jahre weitgehend erfüllt. Danach blieb der EU im Wesentlichen nur noch eine Region für eine mögliche Erweiterung: der Westbalkan. Im Vergleich zu den vorherigen Zielen schien diese Aufgabe weitaus weniger umfangreich. Zur gleichen Zeit wurde die EU durch verschiedene Krisen erschüttert: die Migrationskrise, die Schuldenkrise, die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums sowie die geopolitische Krise im Zusammenhang mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU.

Der Versuch, eine „grüne Agenda“ als neues wichtigstes Ziel vorzugeben, scheiterte faktisch. Vor diesem Hintergrund bot der Übergang der Ukraine-Krise in eine akute Phase der EU-Führung die Möglichkeit, eine neue große Idee vorzugeben: die Konfrontation mit Russland „zur Verteidigung der europäischen Werte“ und „zur Gewährleistung der Sicherheit Europas“. Seitdem hat der Kampf gegen die „russische Bedrohung“ für die europäischen Eliten eine existenzielle Bedeutung erlangt: Es geht um den Machterhalt der liberal-globalistischen Führungsschicht der europäischen Staaten, die Russland zum ideologischen, geopolitischen und militärischen Feind erklärt hat. Anfang der 2020er Jahre wurde der Kampf gegen Russland zum wichtigsten „Bindemittel“ Europas.

Die herrschenden Eliten der europäischen Länder haben sich in den letzten drei bis vier Jahrzehnten zu postnationalen Eliten gewandelt. Sie sind tief von einer linksliberalen globalistischen Ideologie durchdrungen, die „fortschrittliche Werte“ wie die Förderung von „Demokratie und Menschenrechten“, „Geschlechtervielfalt“, „Kohlenstoffneutralität“ und „Widerstand gegen Autoritarismus“ über die nationalen Interessen ihrer Länder stellt. Das deutlichste Beispiel dafür ist die Haltung der regierenden Koalition aus SPD und Grünen in Deutschland (2021-25) zur Frage der Energieimporte, die unweigerlich einen Prozess der Deindustrialisierung des führenden Industriestaats der EU in Gang gesetzt hat. Am deutlichsten zeigen sich diese Merkmale in der Ideologie und im Verhalten der höchsten Brüsseler Bürokratie.

Das europäische Projekt basiert auf der Priorität der gemeinsamen Interessen der Staatengemeinschaft gegenüber den nationalen Interessen einzelner Länder. Diese Haltung, die sich aus den Ideen des liberalen Globalismus ableitet, steht im Widerspruch zum Trend zur Durchsetzung nationaler Interessen, der sich seit den 2010er Jahren in der übrigen Welt (China, Indien, Russland, der Türkei, Brasilien und vielen anderen Ländern und mit der Rückkehr Trumps ins Weiße Haus auch in den USA) aktiv entwickelt hat. Der europäische „Garten“ fand sich somit inmitten eines „Dschungels“ des politischen Realismus wieder. Aus dieser Perspektive ist der Kampf zwischen der Ukraine, die offiziell einen Kurs auf den Beitritt zur NATO und zur EU eingeschlagen hat, und Russland, das seine eigenen Sicherheitsinteressen und die Rechte der ethnischen Russen und Orthodoxen in der Ukraine verteidigt, für die Europäische Union von grundsätzlicher Bedeutung.

Es ist kein Zufall, dass die europäischen Eliten Russland als „Bedrohung vor den Toren“ und in dieser Eigenschaft als ihren „Retter“ dargestellt haben. Westeuropäische Geopolitiker haben historisch gesehen „unsere Größe“ gefürchtet; Philosophen haben Russland traditionell als „das Andere“ betrachtet, das zwar an Europa angrenzt, aber nicht zu ihm gehört; rechte Ideologen als „minderwertige Rasse“; linke Ideologen als „rückständige Autokratie“ usw. Es gab auch konkrete Vorwürfe: Die osteuropäischen Eliten warfen Russland die 40-jährige kommunistische Herrschaft vor, die angeblich die Hauptverantwortung für ihren Rückstand gegenüber Westeuropa trug; die Polen warfen Russland vor, wiederholt an der Teilung ihres Landes beteiligt gewesen zu sein und ihnen dabei die „östlichen (ukrainischen, weißrussischen und litauischen) Gebiete“ weggenommen hatte; die finnische Elite wegen der ihrer Meinung nach „demütigenden“ Politik der „Finnlandisierung“ während des Kalten Krieges; die deutsche Elite wegen unseres Sieges über Hitler-Deutschland im Jahr 1945 über Hitler-Deutschland; von den Nachkommen der Nazi-Kollaborateure im Baltikum und in der Westukraine – für die Vernichtung ihrer Vorfahren. Die britischen Eliten, die die seit dem 19. Jahrhundert in diesem Land traditionelle Russophobie schüren, versuchen, sich nach dem Austritt aus der EU im Jahr 2016 auf Kosten Russlands zu behaupten; die französischen Eliten wollen an die Spitze eines neu aufgerüsteten Europas treten und die Rolle des militärischen, politischen und moralischen Führers der EU spielen usw.

Die Konsolidierung der EU-Länder angesichts der „russischen Bedrohung“ ist nicht zuletzt durch Befürchtungen hinsichtlich der Bereitschaft und des Willens der USA, die Sicherheit ihrer europäischen Verbündeten zu garantieren, ausgelöst worden. Die Abkehr der USA von ihrer europäischen Außenpolitik begann nach dem Ende des Kalten Krieges, verlief jedoch langsam und ungleichmäßig. Die Rückkehr Trumps an die Macht und seine ersten Schritte haben bei den europäischen Eliten äußerste Besorgnis ausgelöst. Die Aussicht, ohne die Unterstützung der USA allein mit Russland konfrontiert zu sein, ist einer der wichtigsten Faktoren, die sowohl die Militarisierung der Europäischen Union als auch die russophobe Hysterie der EU vorantreiben, die darauf abzielt, politische Unterstützung für diese Militarisierung zu gewinnen.

Infolge der „stillen“ liberal-globalistischen Revolution der 1990er bis 2020er Jahre hat sich auch der Typ der formellen Führer der europäischen Länder verändert. Unabhängige, charismatische Persönlichkeiten vom Rang eines de Gaulle, Brandt, Churchill, Adenauer, Krejský, Schmidt, Kohl, Chirac, Schröder, Berlusconi und andere sind verschwunden. Diese und auch Andere wurden seit dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht durch Staatsmänner einer neuen Generation ersetzt, sondern durch farblose Funktionäre, die transnationale Strukturen vertreten, von denen sie abhängig sind. Dazu gehören insbesondere der amtierende französische Präsident E. Macron, eine Reihe von britischen Premierministern der letzten Zeit und eine ganze Reihe von Regierungschefs der skandinavischen und baltischen Länder.

Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die Länder der Europäischen Union nicht in der Lage, ihren Zusammenschluss in ein eigenständiges Machtzentrum zu verwandeln, und überließen die Außen- und Militärpolitik Europas faktisch den USA. So dauerte die „strategische Pause“ der europäischen Eliten – einschließlich der Führung von Großmächten wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland – von den existenziellen Fragen der Außen- und Militärpolitik ihrer Staaten weitere 40 Jahre. Drei Generationen von nominellen Führern, die von der Last der Verantwortung für existenzielle Entscheidungen „befreit“ waren, sind eine sehr lange Zeit. Ein solches Phänomen, das als „strategischer Parasitismus“ bezeichnet wird, ist für viele Satellitenstaaten der USA charakteristisch, aber am deutlichsten und vollkommensten hat es sich in Europa gezeigt – vor allem in den Handlungen der Spitzenpolitiker der Atommächte, des französischen Präsidenten Macron und mehrerer ehemaliger britischer Premierminister.

Obwohl Russland, das sich kürzlich offiziell als Zivilisationsstaat bezeichnet hat, sich allmählich von seinem früheren – und übertriebenen – Eurozentrismus entfernt, entfernt sich Europa viel schneller von Russland. Nach Februar 2022 haben die europäischen Länder ihre politischen, wirtschaftlichen, sportlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen abrupt abgebrochen, logistische Ketten unterbrochen und begonnen, sich physisch mit Stacheldrahtzäunen, Gräben und Minenfeldern entlang der Grenzen von Russland abzuschotten. Daraus lässt sich schließen, dass die Abgrenzung Europas gegenüber Russland aus Sicht der europäischen Eliten nicht episodischer, sondern langfristiger Natur ist.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert hat sich der Inhalt der „Ostpolitik“ der europäischen Länder – insbesondere Deutschlands – verändert. Diese Politik ist nicht mehr in erster Linie auf die Suche nach einer akzeptablen Formel für die Beziehungen zu Russland ausgerichtet. Stattdessen bezeichnet sie nun die Maßnahmen Westeuropas zur Erschließung des europäischen Ostens: zunächst der NATO- und EU-Mitglieder aus den ehemaligen Ländern des Warschauer Pakts, dann auch der ehemaligen Republiken der UdSSR (im Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“). Russland verlor dabei seine Priorität für die NATO-/EU-Länder. Mehr noch, Polen und die baltischen Staaten gaben sich nach ihrem Beitritt zur NATO und zur EU nicht zufrieden, sondern forderten Schutz vor Russland und versuchten anschließend, die Politik der EU gegenüber Moskau zu diktieren. Die westeuropäischen Länder mussten zunächst die antirussischen Stimmungen berücksichtigen, die in den Eliten der osteuropäischen Staaten vorherrschten, und später, angesichts der Krise in den Beziehungen zu Moskau, selbst Russophobie schüren.

Ein weiterer wichtiger negativer Faktor ist, dass in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges die Angst vor einem Weltkrieg und der Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen in den Gesellschaften der europäischen Länder praktisch verschwunden ist. In der Situation eines indirekten Krieges in der Ukraine äußerte sich dies in einem äußerst schwachen Druck der öffentlichen Meinung der europäischen Länder auf ihre Politiker, die eine nicht nur riskante, sondern auch unvernünftige Politik der ständigen Provokation Russlands betrieben. Dies schwächte auch die Wirkung der russischen nuklearen Abschreckung auf das Bewusstsein der Eliten und erschwerte damit unsere Aufgabe, einen weltweiten Atomkrieg zu verhindern.

Die Wende Europas gegen Russland ist also kein Zufall. Die Ukraine-Krise ist ein Anlass für die Aggressivität Europas gegenüber Russland, aber nicht deren Ursache. Mit ihrer Vereinigung gegen uns reagiert Europa auf die Wiederherstellung Russlands als Großmacht. Bezeichnenderweise haben wir in der gegenwärtigen Konfrontation zwischen dem vereinten Europa und Russland keine Verbündeten in Europa, wie es in der Vergangenheit fast immer der Fall war. Es gibt nicht einmal neutrale Länder, die während des Kalten Krieges als geopolitische Puffer und Verhandlungsplattformen fungierten. Alle ehemaligen neutralen Länder sind der NATO/dem EU beigetreten, und sogar die Schweiz ist Mitglied der antirussischen „Sanktionskoalition“ geworden. Im Gegensatz zu den 2000er- und 2010er-Jahren gibt es in den herrschenden Eliten der EU-Länder und Großbritanniens – von wenigen Ausnahmen abgesehen – praktisch keine gemäßigten, nüchtern denkenden Politiker mehr. Was sich noch vor kurzem nur die Balten und Polen leisten konnten, hört man jetzt aus London, Paris und Berlin.

Nur eine Handvoll europäischer Länder wagen es unter diesen Umständen, aus ihrer nationalen Perspektive heraus zu sprechen: die bereits erwähnten NATO-/EU-Mitglieder Ungarn und Slowakei sowie Serbien und die Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina. Diese Staaten sind keine „pro-russischen“ Enklaven: Ihre Führer versuchen, mit gesundem Menschenverstand zu handeln. Sie machen keine „Wetterballons“ in der EU und der NATO, und Moskau kann sich nicht ernsthaft auf sie stützen, obwohl es mit ihnen zusammenarbeiten muss.

Der Ukraine-Konflikt und die Militarisierung Europas

Die Übernahme der strategischen Initiative im Ukraine-Konflikt durch russische Truppen im Jahr 2024 hat die Europäer sehr beunruhigt. Ihre Ängste eskalierten zu Hysterie, nachdem Donald Trump Anfang 2025 in den USA wieder an die Macht kam und der russisch-amerikanische Dialog wieder aufgenommen wurde. In Solidarität mit Trumps politischen Gegnern in den USA begannen die Europäer, das Regime in Kiew noch aktiver zu unterstützen und gleichzeitig zu versuchen, den Dialog zwischen Russland und den USA zu torpedieren.

Die strategische Autonomie Europas innerhalb des Atlantischen Bündnisses, über die seit Anfang der 1950er Jahre immer wieder gesprochen wurde, die aber bisher keine Chance auf Verwirklichung hatte, wurde zum Schlagwort der Stunde. Ideen zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und einer Europäischen Armee werden wiederbelebt. Es wird über eine Umgestaltung der NATO diskutiert, bei der die europäische Komponente gestärkt und die Position des Oberbefehlshabers der vereinigten Streitkräfte des Bündnisses in Europa an die Europäer übertragen werden soll. Dabei hoffen die Europäer, das, was letztlich von der Ukraine übrig bleibt, in einen militärischen Vorposten und Brückenkopf an den Grenzen Russlands zu verwandeln.

Die Sache beschränkt sich nicht auf das Aufstellen von Parolen und Ideen. In den letzten drei Jahren hat die Europäische Union einen Sprung in der Vereinheitlichung ihrer Außen-, Energie- und Infrastrukturpolitik sowie in der Stärkung der Blockdisziplin gemacht. Im Zuge der Umsetzung einer einheitlichen Sanktionspolitik ist es den herrschenden Eliten gelungen, den Widerstand der Wirtschaftskreise zu brechen, die an wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland interessiert sind. Politische Kräfte und einzelne Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die eine moderate Haltung gegenüber Russland einnehmen, werden geächtet. Nicht dem System angehörende Parteien werden unter allen Vorwänden von der Macht ausgeschlossen. Infolgedessen hat Europa im Kampf gegen Russland seine moralische Autorität diskreditiert.

Die EU-Staaten und die Europäische Kommission treffen Entscheidungen, die auf den Ausbau der Rüstungsproduktion abzielen. Die Militärausgaben einzelner Länder steigen spürbar an. Im Jahr 2025 hat Deutschland eigens sein Grundgesetz geändert, um sich das verfassungsmäßige Recht zu sichern, die Staatsverschuldung zu erhöhen und deutlich mehr für militärische Zwecke und Infrastruktur auszugeben. Es werden Vereinbarungen über die Integration des Logistiknetzes der europäischen Länder und die Vereinfachung der Regeln für die Verlegung von Truppen und militärischer Ausrüstung („militärischer Schengen“) getroffen. Die führenden Länder Europas – Deutschland und Frankreich sowie Polen – haben umfangreiche Pläne zur Aufrüstung ihrer Armeen angekündigt. Die operative Erschließung des Territoriums der neuen NATO-Mitglieder Finnland und Schweden schreitet zügig voran. Länder, die die Wehrpflicht abgeschafft haben – wie die Bundesrepublik Deutschland – denken über deren Wiedereinführung nach.

Die Bevölkerung der europäischen Länder wird intensiv im Sinne der „russischen Bedrohung“ und der Notwendigkeit, sich bereits bis 2030 auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten, bearbeitet. Die Grundlage für die Manipulation großer Massen von Menschen wurde bereits während der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und der Förderung der „grünen Agenda“ getestet. Im Wesentlichen entsteht ein neuer Typ von Europäer, der bereit ist, gegen Russland zu kämpfen. Die Technologien der politisch-psychologischen „Umprogrammierung“ des Bewusstseins funktionieren: In der Ukraine ist es mit Hilfe von Instrumenten zur Beeinflussung des Bewusstseins der Bürger in den letzten 30 Jahren, insbesondere in den letzten 10 Jahren, gelungen, einen massiven Hass gegen Russland und die Russen zu schüren.

Besonders hervorzuheben ist die Belebung der europäischen politischen Debatten zum Thema Atomkraft. Frankreich hat sich bereit erklärt, den amerikanischen „Atomschutzschild“ durch eigene Atomgarantien für die EU-Länder zu ersetzen. In Deutschland wird über europäische – französisch-britische – Atomstreitkräfte diskutiert, zu denen auch die BRD Zugang hätte. In Warschau wird über die Zweckmäßigkeit der Stationierung von US-Atomwaffen auf polnischem Territorium oder über den Erwerb von Atomwaffen durch Polen selbst diskutiert. Diese Äußerungen sind bislang eher rhetorischer Natur und nicht praktisch umsetzbar, aber es wäre unklug, sie zu ignorieren.

Es ist klar, dass die Umsetzung der Pläne zur neuen Militarisierung Europas Zeit brauchen wird. Es werden ungefähre Daten genannt, wann Europa „strategische Autonomie“ (d. h. die Fähigkeit, „Russland ohne die Unterstützung der USA entgegenzutreten“) erreichen könnte: mindestens fünf Jahre, optimalerweise zehn. Diese Schätzungen sind wahrscheinlich zu optimistisch. Bei vielen wichtigen Rüstungssystemen und der Kampfausrüstung der Streitkräfte ist Europa in kritischer Abhängigkeit von den USA. Um diese zu überwinden, müssen die Rüstungsindustrie der europäischen Länder und ihre technologische Basis konsolidiert werden. Dieser Prozess wird sehr komplex und schmerzhaft sein. Andererseits ist in absehbarer Zukunft nicht mit einem Bruch der militärpolitischen und militärtechnischen Beziehungen zwischen den USA und der EU und der Entstehung eines europäischen Machtzentrums zu rechnen, das mit den USA im geopolitischen Bereich konkurrieren könnte. Die Amerikaner, die von den Europäern eine Erhöhung der Militärausgaben auf 5 % des BIP fordern, rechnen damit, dass die NATO-Staaten viele der von ihnen benötigten Waffensysteme in den USA kaufen werden.

Bislang lässt sich feststellen, dass die Dynamik des militärischen Aufbaus in der EU zunimmt, auch wenn es hier noch mehr Worte als Taten gibt. Die Herangehensweise der Europäischen Kommission und einzelner nationaler Regierungen (z. B. Deutschlands) an die Aufrüstung ist eher finanzieller, „buchhalterischer“ Natur. Skeptiker weisen darauf hin, dass die Europäer ihr wirtschaftliches, soziales und politisches Modell grundlegend ändern müssten, um wirklich eine autonome Militärmacht zu werden. Ob sie dazu bereit sind, ob die herrschenden Eliten von ihren Wählern, deren soziale Rechte beschnitten würden, ein entsprechendes Mandat erhalten und ob es gelingen wird, die Widersprüche zwischen den Interessen einzelner Staaten und Produzenten zu überwinden, ist noch offen.

Gleichzeitig muss man anerkennen, dass die politische Elite Europas ihre Macht bislang recht sicher in den Händen hält, indem sie den Herausforderungen systemfremder Kräfte erfolgreich pariert und auftretende Probleme im Keim erstickt. Mit ihrer gnadenlosen Vorgehensweise gegenüber Konkurrenten beweist die europäische Elite auch ihre Fähigkeit zur Selbsterhaltung. Die neue Generation der formellen Führer der EU-Länder ist den Ideen des Liberalismus ebenso oder sogar noch mehr verpflichtet als ihre Vorgänger. Der Liberalismus in Europa wird immer intoleranter und totalitärer.

Wir müssen uns bewusst sein, dass wir (Russland, Red.), wenn auch nur ein Teil der Pläne umgesetzt wird, eine neue militärisch-politische Realität an unseren westlichen Grenzen vorfinden werden. Anstelle einer Struktur, die vollständig unter der Kontrolle der USA steht, könnte Russland an seinen westlichen Grenzen eine hybride europäisch-amerikanische militärpolitische Konstruktion vorfinden, in der Washington die allgemeinen Kontrollfunktionen behält, die Beteiligung der Europäer jedoch deutlich größer ist als in der derzeitigen NATO und die Entscheidungsfindung möglicherweise komplizierter wird.

Letzteres erhöht die Risiken. Mit ihrem Versuch, „die Amerikaner an der Ostfront zu ersetzen“, zeigen die europäischen Regierungen ihre Unbesonnenheit und ihren Mangel an strategischem Denken, der während der langen Jahrzehnte der amerikanischen Hegemonie verkümmert ist. Das macht sie besonders gefährlich, nicht wegen der Möglichkeiten, über die Europa derzeit verfügt, sondern wegen der wahrscheinlichen schwerwiegenden Folgen ihrer Provokationen. Die Europäer spielen buchstäblich mit dem Feuer. Es geht insbesondere um öffentlich geäußerte Absichten, Russland den Zugang zum Finnischen Meerbusen zu versperren, Kaliningrad zu isolieren, die dänischen Meerengen für Schiffe mit Verbindungen zu Russland zu sperren sowie um mögliche neue Angriffe auf die Krim-Brücke und andere russische Objekte in der Schwarzmeerregion.

Die Aussichten für eine Transformation der Europäischen Union sind also noch unklar. Wird die EU eine Remilitarisierung durchführen können – und damit die Wirtschaft insgesamt wiederbeleben? Wird die Europäische Union enger zusammenwachsen oder sich im Gegenteil faktisch in mehrere Teile auflösen? Wird sich die EU von ihrer Vasallenstellung gegenüber den USA befreien können? Auf diese Fragen gibt es heute keine Antwort. Es ist zu bedenken, dass eine von den USA „abgekoppelte“ Europäische Union sowohl in interne Streitigkeiten versinken als auch mit noch größerem Eifer und noch größerer Verantwortungslosigkeit Russland befehden und es zum Krieg provozieren könnte.

Angesichts der Wende der US-Außenpolitik vom liberalen Globalismus hin zu einem großmachtpolitischen Realismus, den das Team um Trump verfolgt, muss man vorläufig feststellen, dass Europa den Platz des Hauptgegners Russlands im Westen eingenommen hat. Wir müssen davon ausgehen, dass die antirussische Politik auf absehbare Zeit der Hauptpfeiler der europäischen Integration bleiben wird und die Konfrontation mit Russland der Hauptsinn der Existenz der Europäischen Union. Diese Entscheidung erfordert eine wesentliche Korrektur der regionalen Strategie der Russischen Föderation.

Die Strategie Russlands

Das Konzept der europäischen Sicherheit – d. h. die Verhinderung eines neuen Krieges in Europa –, an dem Moskau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festhielt, erwies sich nach dem Ende des Kalten Krieges als unhaltbar, als Russland geschwächt war und die NATO-Staaten im Zuge ihrer Osterweiterung seine Sicherheitsinteressen nicht mehr berücksichtigten. In der Folge führte das Scheitern des hegemonialen Weltordnungsmodells, das die USA durch die NATO-Erweiterung in Europa aufzubauen versuchten, zu einem indirekten Krieg des Westens gegen Russland in der Ukraine.

Im 21. Jahrhundert zwingt die offensichtliche Verflechtung der Sicherheitsprobleme in Europa und Asien dazu, diese Probleme komplex zu betrachten. Vor diesem Hintergrund hat Russland die Idee einer eurasischen Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen, die auch die europäischen Länder einbezieht – allerdings nicht mehr als Zentrum des vorgeschlagenen Systems. Die vollständige Umsetzung der russischen Idee kann viele Jahrzehnte dauern. Die Vorlage dieser umfassenden Idee darf jedoch nicht verhindern, dass unter Berücksichtigung der Lage in Eurasien und in der Welt insgesamt Strategien zur Gewährleistung der Sicherheit Russlands in einzelnen geografischen Regionen, einschließlich Europas, ausgearbeitet werden.

Unsere Strategie in Richtung Europa verfolgt in erster Linie das Ziel, die äußere Sicherheit Russlands und seines Verbündeten Belarus zu gewährleisten. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir die militärische Spezialoperation zu einem überzeugenden Sieg über den Feind führen und – auch unter Einsatz diplomatischer Mittel – eine für Russland zufriedenstellende Lösung der Ukraine-Frage erreichen.

Mittelfristig müssen wir die Möglichkeit eines Krieges mit dem NATO-Europa (mit einer gewissen Unterstützung seitens der USA) im Auge behalten und uns auf verschiedene Szenarien für den Beginn und den Verlauf eines solchen Konflikts vorbereiten. Die Möglichkeit eines solchen Krieges bedeutet jedoch nicht, dass er unvermeidlich ist. Während wir den Feind durch nukleare Abschreckung und andere militärische, militärtechnische und sonstige Maßnahmen in Schach halten, müssen wir gleichzeitig unsere Bereitschaft zum Dialog mit vernünftigen Vertretern der europäischen Gesellschaften demonstrieren.

Europa als solches ist nicht unser Feind. Es geht nicht so sehr um unfreundliche Staaten, sondern vielmehr um unfreundliche Eliten in bestimmten Ländern. Unser Feind in Europa ist das politische Establishment der EU/NATO-Staaten und die Führung der europäischen und atlantischen Institutionen sowie die mit ihnen verbundenen Kreise (Mainstream-Medien, Propagandisten, Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes usw.). Gegen diese Personen müssen wir Sanktionen verhängen und gegebenenfalls (bei Beteiligung an Verbrechen gegen russische Staatsbürger) Strafverfahren einleiten.

Wir müssen nicht nur auf die Aufhebung der antirussischen Sanktionen bestehen, sondern auch auf den Ersatz des durch diese Sanktionen entstandenen Schadens Russlands. Gleichzeitig muss die Rückgabe der eingefrorenen russischen Vermögenswerte und die Auszahlung der eingefrorenen Erträge, einschließlich entgangener Gewinne, gefordert werden. Alle gegen Russland gerichteten Maßnahmen der europäischen Eliten müssen sorgfältig dokumentiert und bestätigt werden und als Grundlage für künftige Klagen dienen.

Was die Gesellschaften, Wirtschaftskreise und Bürger der europäischen Länder betrifft, so betrachten wir sie als Nachbarn. Wir sind bereit zum Dialog und zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit ihnen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen. Selbst unter den gegenwärtigen Bedingungen bleibt der Handel zwischen Russland und der EU, der auf einen Siebtel zurückgegangen ist, bestehen – auch unter Nutzung von Umwegen. Wirtschaftliche Interessen sind derzeit für die europäischen Eliten nicht entscheidend, aber langfristig können sie zu einem Faktor für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und Europa auf einer neuen Grundlage werden.

In der Zwischenzeit, während der anhaltenden Konflikte um die Ukraine, sollten wir die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs warnen, dass Russland im Falle der Entsendung regulärer Streitkräfte unter irgendeinem Vorwand und in welcher Funktion auch immer auf das Territorium der Ukraine diese Staaten als direkte Konfliktpartei betrachten wird – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Moskau muss London und Paris auch warnen, dass die Lieferung bestimmter Waffen an Kiew uns zu Vergeltungsschlägen gegen britische oder französische Ziele zwingen könnte. Der Feind darf keinen Zweifel daran haben, dass Russland im Falle eines großen Krieges in Europa bereit ist, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, einschließlich Atomwaffen.

Angesichts der anhaltenden Feindseligkeit der europäischen Eliten gegenüber Russland und ihres Desinteresses an einer wesentlichen Verbesserung der Beziehungen zu Moskau muss unsere Strategie davon ausgehen, dass Russland nicht nur an einer weiteren Stärkung und Erweiterung der Europäischen Union, sondern an ihrer Existenz an sich kein Interesse hat. Da Russland anerkennt, dass die EU ebenso wie die NATO Feinde Russlands sind, sollte Russland keine Beziehungen zur Führung beider Organisationen unterhalten. Eine Ausnahme bildet der Notfallkommunikationskanal mit dem Oberkommando der NATO.

Im Interesse Russlands liegt die Desintegration der EU, die es uns ermöglichen würde, konstruktive Beziehungen zu einzelnen europäischen Ländern aufzubauen. Da wir uns bewusst sind, dass es für uns kontraproduktiv wäre, offen auf eine Spaltung der EU hinzuarbeiten, müssen wir dennoch alle sich in diesem Zusammenhang bietenden Möglichkeiten nutzen. In der Erkenntnis, dass ein vereintes Europa für uns auch langfristig kein Partner ist, sollten wir die Verlagerung diplomatischer Ressourcen von der EU zu den Ländern der Weltmehrheit fortsetzen.

Es ist notwendig, einen differenzierten Ansatz gegenüber den verschiedenen EU-Staaten zu verfolgen, der unseren Interessen und den Realitäten des jeweiligen Landes entspricht. Die größten EU-Länder – Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien – bleiben für uns am wichtigsten. Derzeit ist die politische Lage in diesen Ländern für uns ungünstig. Der politische Dialog mit ihnen ist unterbrochen und wäre derzeit kaum produktiv. Die Parteien in den Parlamenten dieser Länder, die eine realistische Position gegenüber Russland vertreten (z. B. „Alternative für Deutschland“), sind politisch isoliert und von einem Verbot bedroht. Die Möglichkeit, dass nicht-systemkonforme Kräfte an die Macht kommen (z. B. in Frankreich bei den Wahlen 2027), ist gering.

Für Russland ist es schädlich und aussichtslos, sich in die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern einzumischen und die Gegensätze innerhalb dieser Länder auszunutzen. Solche Gegensätze könnten sich im Falle einer Fragmentierung der EU und des Aufstiegs nationalistischer Kräfte in europäischen Ländern verschärfen. Eine Einmischung Russlands in solche Konflikte wäre mit offensichtlichen Risiken und ungerechtfertigten Ressourcen-Aufwendungen verbunden. Wir können die Politik der für Russland führenden oder wichtigen europäischen Länder nur indirekt beeinflussen. Unser Mindestziel ist es, die europäischen Länder (einschließlich der beiden europäischen Atommächte) von gefährlichen Schritten abzuhalten, die zu einem militärischen Konflikt mit uns führen könnten.

Es ist nicht zu erwarten, dass wirtschaftliche Interessen die Europäer in absehbarer Zukunft dazu bewegen werden, ihre ideologisierte und mythologisierte Haltung gegenüber Russland aufzugeben. Die Wirtschaft ist derzeit nicht in der Lage, dem Druck von Politikern und Ideologen aus den Medien standzuhalten. Dennoch können wir davon ausgehen, dass die gestellte Aufgabe einer drastischen Erhöhung der Militärausgaben und der Militarisierung der europäischen Gesellschaften von der europäischen Bevölkerung erhebliche Opfer verlangen wird, was Anlass zu Unzufriedenheit geben könnte. Diese Unzufriedenheit könnte wiederum den Wunsch der Bürger nach einer objektiveren Einschätzung der Lage in den Beziehungen zwischen der EU und Russland wecken. Ohne den Einfluss der öffentlichen Meinung auf die europäische Politik zu überschätzen, sollten wir nach Möglichkeiten für eine für uns vorteilhafte geschäftliche Zusammenarbeit mit europäischen Unternehmern (auch in Drittländern) suchen und einen offenen Dialog mit einzelnen Parlamentariern, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Kulturschaffenden der europäischen Länder anstreben, die für einen Dialog offen sind.

Unsere Nachbarn im Nordwesten – die Skandinavier und Balten – stehen Russland besonders feindselig gegenüber. Selbst in ferner Zukunft sind keine Möglichkeiten für eine Normalisierung der Beziehungen zu ihnen erkennbar. Hier müssen wir darauf hinwirken, dass die unmittelbaren Nachbarn Russlands sich des Preises möglicher Provokationen ihrerseits an der Grenze sowie um Kaliningrad, im Finnischen Meerbusen, in den dänischen Meerengen, in der Ostsee und im Barentssee sowie auf dem Spitzbergen-Archipel voll bewusst werden. Wir müssen uns weiterhin gegen die Diskriminierung russischsprachiger Nichtstaatsbürger in Lettland und Estland, die Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren im Baltikum sowie gegen die baltische Russophobie und ihre Anhänger einsetzen.

In einer Situation, in der Polen zum wichtigsten Militärstützpunkt der NATO und der EU an der Westgrenze Russlands wird, ist es für uns besonders wichtig, die Union zwischen Russland und Belarus zu stärken. Zu diesem Zweck ist es notwendig, nicht nur die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung – auch vom Territorium Weißrusslands aus – zu erhöhen und das Potenzial der gemeinsamen russisch-weißrussischen Truppen und Streitkräfte zu stärken, sondern auch die politische und soziale Stabilität in Weißrussland zu fördern, die uns und unseren engsten Verbündeten garantiert, dass sich die Versuche einer „Farbrevolution“ wie 2020 nicht wiederholen.

Angesichts des ungelösten Konflikts zwischen Moldawien und Transnistrien sollten wir die politischen Prozesse in Rumänien genauer beobachten. Es liegt in unserem Interesse, eine größere Unabhängigkeit Bukarests gegenüber Brüssel zu fördern und Rumänien dabei zu unterstützen, dem Beispiel seines Nachbarlandes Ungarn bei der Verteidigung seiner Souveränität zu folgen.

Die Zusammenarbeit mit Ungarn und der Slowakei als EU- und NATO-Staaten, die ihre nationalen Interessen verteidigen, muss fortgesetzt werden. Zusammen mit dem traditionell freundschaftlich gesinnten Russland, Serbien und der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina könnten diese Länder in Zukunft eine informelle quasi-neutralistische Allianz in Mitteleuropa bilden, der sich mit der Zeit andere Länder anschließen könnten, die nicht auf eine Konfrontation mit Russland aus sind, darunter Österreich und Rumänien. Die südwestliche Ausrichtung unserer Politik in Europa ist somit relativ vielversprechend.

In diesem Beitrag wird die Türkei nicht berücksichtigt. Trotz ihrer NATO-Mitgliedschaft und ihrer engen Beziehungen zu den USA verfolgt die Türkei eine eigenständige Politik und ist bereits zu einer großen Regionalmacht geworden. Trotz erheblicher Unterschiede in den nationalen Interessen der Russischen Föderation und der Türkei und der damit verbundenen Spannungen und potenziellen Konflikte in verschiedenen Fragen ist es für Moskau sehr wichtig, die Arbeitsbeziehungen zu Ankara aufrechtzuerhalten – auch um den derzeitigen Rechtsstatus der Schwarzmeer-Meeresstraßen zu bewahren.

Wir müssen unsere Position in der Arktis, die erneut zum Schauplatz einer Konfrontation zwischen Russland und der NATO wird, mit doppelter Energie stärken. Es geht darum, das Potenzial der Nordflotte zu erhöhen, die Entwicklung der Arktisregion der Russischen Föderation zu beschleunigen und die Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Schutz der Interessen des Landes in der Region, einschließlich der Wirtschaftszone Russlands und unserer rechtmäßigen Positionen auf dem Spitzbergen-Archipel, auszubauen. Wir müssen unser politisches, diplomatisches und rechtliches Konzept für die Nutzung der Nordostpassage weiterentwickeln, da diese sowohl eine russische Logistik-Ader als auch eine Route von globaler Bedeutung ist.

Das Feld unserer Auseinandersetzung mit der EU/NATO beschränkt sich nicht auf das geografische Europa mit den angrenzenden Meeren und Ozeanen. Wir müssen dem schädlichen Einfluss der europäischen Institutionen und der führenden Staaten in unseren nahen Nachbarländern, insbesondere in den Ländern des Südkaukasus, in Kasachstan und in Zentralasien, entgegenwirken, um diesen Einfluss zu verringern und zu beseitigen. Es geht dabei nicht so sehr um die militärisch-politische und militärisch-technische Durchdringung der genannten Regionen durch den Feind, sondern vielmehr um dessen finanzielle Durchdringung, ideologischen Einfluss und Versuche, die Eliten unserer Nachbarstaaten zu kontrollieren und gegen Russland aufzubringen. In diesem Kampf müssen wir unbedingt mit den lokalen patriotischen und russlandfreundlichen Kräften zusammenarbeiten.

Neben dieser faktisch defensiven Strategie brauchen wir auch eine offensive Strategie. In Nord-, West- und Zentralafrika baut Russland die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich mit Ländern aus, von denen einige nach ihrer Unabhängigkeit im Einflussbereich Frankreichs standen. Dieser Prozess bedeutet nicht eine Neuaufteilung der Einflusssphären auf dem afrikanischen Kontinent, sondern die Eröffnung von Möglichkeiten für eine freiere Entwicklung der afrikanischen Länder in allen Bereichen. Für Russland ist die Rückkehr nach Afrika in erster Linie von wirtschaftlichem Interesse, für die ganze Welt ist es ein weiterer Schritt zur Befreiung vom europäischen Neokolonialismus und der weltweiten Vorherrschaft des Westens.

Wir müssen die Beziehungen Europas zu unseren wichtigsten Partnern aus der Weltmehrheit – China und Indien – aufmerksam verfolgen. China und die Europäische Union stärken ihre Beziehungen angesichts des wirtschaftlichen Drucks seitens der USA; Indien und die EU betrachten sich ebenfalls als wichtige Wirtschafts- und Technologiepartner. Wir müssen uns bemühen, dass die Stärkung der chinesisch-europäischen und indisch-europäischen Beziehungen Russland nicht schadet und nicht zu einem indirekten Druck Europas auf uns über Peking und Delhi führt. Angesichts der großen Abhängigkeit der EU von den chinesischen und indischen Märkten könnten wir im Idealfall unsere Beziehungen zu unseren Partnern nutzen, um Druck auf Europa auszuüben, aber in unserer derzeitigen Lage können wir kaum darauf hoffen. Das Mindeste, was wir tun können, ist, mit unseren Partnern in den BRICS-Staaten, der SCO und der EAEU eine gemeinsame Vision für das moderne Europa zu diskutieren; das Maximum ist die Koordinierung der Politik gegenüber der NATO und bestimmter Aspekte der Politik gegenüber der EU.

Die Strategie der Russischen Föderation gegenüber Europa kann vor allem im Rahmen bilateraler Beziehungen zu einzelnen Staaten umgesetzt werden. Die europaweite Institution OSZE ist für uns nutzlos. Russland sollte seine Mitarbeit in diesem Gremium zumindest aussetzen oder deutlich reduzieren. Die Teilnahme an den regionalen Kooperationsräten – in der Barentssee, im Baltikum und im Schwarzmeerraum – sollte bis zu einer Änderung der Haltung der anderen Teilnehmerstaaten gegenüber Russland ausgesetzt bleiben.

Stabilisierung der Konfrontation

Nach dem Ende der militärischen Spezialoperation in der Ukraine müssen wir uns auf eine langwierige Konfrontation mit der NATO und einen anhaltenden hybriden Krieg mit der EU vorbereiten. Die Wahrscheinlichkeit eines großen Krieges ist dabei nicht ausgeschlossen; Russland muss darauf vorbereitet sein. Eigentlich besteht das einzige gemeinsame objektive Interesse Russlands und Europas darin, einen groß angelegten bewaffneten Konflikt zwischen der Russischen Föderation und der NATO/EU zu verhindern, der zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Dieses Interesse kann durch die Stärkung und Regulierung der konfrontativen Stabilität entlang einer klaren Trennlinie in Europa im Geiste der reifen Phase des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der 1960er- und 1970er-Jahre verwirklicht werden.

Um diese Art von Stabilität aufrecht zu erhalten, muss die nukleare Abschreckung gegenüber den europäischen Gegnern verstärkt werden. Im Gegensatz zur NATO/EU sollte der Schwerpunkt auf Atomwaffen (einschließlich der in Belarus und im Kaliningrader Gebiet stationierten) und Mittelstreckenraketen („Oreschnik“) gelegt werden. Dem Gegner muss klar gemacht werden, dass Russland auf seine Kriegshandlungen (Versuche einer Land- und/oder Seeblockade russischer Gebiete oder Häfen) mit Nuklearschlägen reagieren kann. Die deutsche Führung muss gewarnt werden, dass Versuche Berlins, Atomwaffen zu erwerben, von Russland mit Gewalt unterbunden werden.

Wichtig ist auch die Verstärkung der Verteidigung im Westen – insbesondere durch Luftabwehrsysteme, Mittel zur Bekämpfung von Drohnen, unbemannte Boote (BEKAs) und elektronische Kampfführung (EKF). Dabei sollte man sich an die Erfahrungen der Sowjetunion erinnern und es unbedingt vermeiden, Russland in ein Wettrüsten mit konventionellen Waffen zu verwickeln sowie die Streitkräfte ständig aufzustocken und das Land insgesamt zu militarisieren. Unser Militäraufbau muss sich strikt an den Grundsatz der Angemessenheit für die zu lösenden Aufgaben halten. Wir müssen die Konfrontation mit Europa als eine zwangsläufige Ablenkung unserer Aufmerksamkeit und unserer Ressourcen von der Lösung der Aufgaben der Transformation und Entwicklung Russlands betrachten, die letztlich die Position und Rolle unseres Landes in der Welt des 21. Jahrhunderts bestimmen werden.

Eine hypothetische Beilegung des Ukraine-Konflikts setzt zumindest eine teilweise Normalisierung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten voraus, die derzeit Gegner Russlands sind. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Normalisierung schnell vonstatten gehen wird. In jedem Fall ist es wichtig, dass sie nicht zu einer einfachen Rückkehr des westlichen, einschließlich des europäischen, Geschäftslebens zu den Positionen führt, die es in Russland vor 2022 innehatte. In den Jahren der militärischen Spezialoperation hat die russische Wirtschaft begonnen, sich in Richtung Selbstversorgung, Reindustrialisierung und technologischer Souveränität zu bewegen. Entscheidungen über die Zulassung von Europäern zu Projekten auf russischem Territorium, sobald dies relevant wird, müssen unter Berücksichtigung der allgemeinen Entwicklungsstrategie des Landes und der konkreten Interessen russischer Hersteller und Unternehmer getroffen werden. Keine Normalisierung darf jedoch zu einer Schwächung unserer Zusammenarbeit mit den Ländern der Weltmehrheit und zu einer allgemeinen Neuausrichtung Russlands zurück nach Europa führen.

Unser Volk hat eine bemerkenswerte Eigenschaft: Es vergibt seinen besiegten Feinden, ohne sie an den Schmerz zu erinnern, den sie uns zugefügt haben. Unsere Staatsmänner sollten sich jedoch das Verhalten derjenigen Europäer, die persönlich am Krieg gegen uns beteiligt waren, gut merken und analysieren: die für die Lieferung von Waffen und die Bereitstellung von Geheimdienstinformationen für Angriffe auf unser Land verantwortlich sind, die Terroranschläge gegen unsere Bürger und Sabotageakte gegen unsere Einrichtungen geplant und unterstützt haben, die zum Mord an Russen aufgerufen oder solche Morde gerechtfertigt haben. Ihnen allen darf nicht vergeben werden.

Fazit – die russische Zivilisation und Europa

Der historische Kern Russlands liegt geografisch in Europa. In unserer ideologischen Arbeit im Inland und in der Außenpropaganda muss jedoch stets betont werden, dass Russland ein unabhängiger Staat und eine eigenständige Zivilisation ist, deren kulturelle Wurzeln im orthodoxen Christentum liegen, das von den Russen aus Byzanz übernommen wurde, und deren politisches System in einem langen Kampf, in Zusammenarbeit und enger Interaktion mit dem Mongolischen Reich geschmiedet wurde. Die europäische Periode unserer Geschichte (18.–20. Jahrhundert) war eine wichtige Etappe unserer kulturellen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, aber sie ist abgeschlossen. Wir haben das Beste geerbt, was die große europäische Kultur der Vergangenheit der Welt gegeben hat. Heute jedoch ist Eurozentrismus ein Zeichen intellektueller Abhängigkeit und moralischer Degradation.

Europa ist unser Nachbar und wird es auch bleiben. Bis heute kennen und verstehen wir Europa besser als andere Regionen Eurasiens, ganz zu schweigen von anderen Kontinenten (mit Ausnahme der USA). Darin liegt unser Vorteil. In der politischen Arbeit mit den Ländern Europas müssen wir Beziehungen sowohl zu rechten Konservativen und Traditionalisten als auch zu linken Parteien und Bewegungen – zu allen vernünftigen Kreisen der Nachbarländer – aufbauen und pflegen. Auf diese Weise müssen wir uns bemühen, unsere Interessen durch den Dialog mit allen Teilen des gesellschaftlichen Spektrums zu vertreten. Das Wichtigste ist, sich bewusst zu sein, dass eine grobe Einmischung in die inneren Angelegenheiten der europäischen Länder zu Ergebnissen führen wird, die den gewünschten entgegenstehen.

In unserer politischen und propagandistischen Arbeit mit den Europäern müssen wir ernsthafte Warnungen und aufrichtige Offenheit für Dialog und Zusammenarbeit geschickt miteinander verbinden. Wir müssen in die Zukunft blicken, versuchen, unsere Nachbarn in eine für uns vorteilhafte Richtung zu beeinflussen, sie von gefährlichen Schritten abhalten und ihnen gleichzeitig Möglichkeiten einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit aufzeigen. Hier darf es keine Illusionen geben. Wir müssen an den Rest rationaler Vernunft der Europäer appellieren und ihnen immer wieder die Unhaltbarkeit des Mythos von einer russischen militärischen Bedrohung für Europa vor Augen führen, aber gleichzeitig auf die Unvermeidbarkeit einer Reaktion auf feindselige Handlungen unserer Gegner hinweisen.

Ohne uns in die politischen Kämpfe innerhalb der europäischen Staaten einzumischen, da dies kontraproduktiv wäre, sollten wir aktiver im Informationsbereich und im ideologischen Bereich arbeiten. Wir können und müssen Koalitionen mit einzelnen Kategorien und Gruppen von Europäern zu konkreten Themen eingehen. Bei der Kritik am Euroglobalismus ist es sinnvoll, den lokalen Nationalismus bestimmter Länder als situative Verbündete zu gewinnen. Bei der Kritik am Trans- und Posthumanismus und anderen progressiven philosophischen Konstrukten können wir mit Vertretern traditioneller Religionen (insbesondere der römisch-katholischen) und Meinungsführern zusammenarbeiten, die sich an den gesunden Menschenverstand halten.

Während wir unsere diplomatischen Ressourcen weiterhin auf die Länder der Weltmehrheit konzentrieren, dürfen wir nicht aufhören, die Länder Europas eingehend zu studieren und ihre Transformation aufmerksam zu verfolgen. Die russische Europastudien müssen neue Impulse und eine neue Entwicklungsrichtung erhalten. Anstelle von Untersuchungen zum nicht mehr aktuellen Thema der Integration Russlands in ein großes Europa muss der Schwerpunkt auf die Ermittlung der tatsächlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten der europäischen Länder in ihrer Konfrontation mit Russland gelegt werden, sowie auf die Perspektiven für eine Transformation der Europäischen Union, einschließlich Möglichkeiten für einen Wechsel der derzeitigen europäischen Eliten oder eine Weiterentwicklung ihrer Sichtweise auf die Beziehungen zu Russland; Möglichkeiten für wirtschaftliche und andere Formen der Zusammenarbeit mit einzelnen europäischen Ländern, die für eine solche Zusammenarbeit offen sind oder sich dafür öffnen.

In unserer einzigartigen und komplexen Zivilisation gibt es ein europäisches Element, auf das wir auf keinen Fall verzichten dürfen, da es uns reicher und stärker macht. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat Europa jedoch aufgehört, für Russland ein Vorbild und Mentor zu sein, und ist zu einem der großen Nachbarn geworden, zu dem die Beziehungen derzeit eine Phase der Abgrenzung und Feindseligkeit durchlaufen (vor allem von Seiten Europas). Auch diese Phase wird irgendwann überwunden werden. Es liegt in unserem Interesse, die Beziehungen zu den westlich von Russland gelegenen Ländern auf der Grundlage von Nachbarschaft, Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt neu zu gestalten. Der Weg dorthin ist nicht kurz und nicht geradlinig. Aber er ist gangbar.

Zum Originalartikel von Dmitri Trenin in russischer Sprache.
Zur deutschen Übersetzung als PDF. (Die Übersetzung besorgte Anna Wetlinska)

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Die Beziehungen Russlands zu den Ländern Europas
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