Deutschland trotz 2+4-Vertrag noch Besatzungsrecht unterworfen?

Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann (nrhz)

RT-Deutsch-Redakteur Florian Warweg hat im Rahmen der Bundespressekonferenz Anfang Mai 2019 die Frage nach dem Besatzungsrecht in Deutschland gestellt. Er macht darauf aufmerksam, dass in einer Ausarbeitung des „Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages“ vom 21.06.2006 der Begriff „Besatzungsrecht“ Verwendung findet, das infolge eines Notenwechsels weiter gültig sei. (1)(2) Das Auswärtige Amt hat dazu wie folgt Stellung bezogen: „Es bestehen keine fortdauernden Besatzungsrechte in Deutschland, sondern lediglich freiwillige vertragliche Verpflichtungen, die Deutschland als souveräner Staat freiwillig eingegangen ist. Der ‚Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland‘ vom 12. September 1990 (sog. ‚Zwei-plus-Vier-Vertrag‘) hat die noch bestehenden Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte beendet sowie alle noch bestehenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. In Artikel 7 des Vertrags heißt es abschließend: ‚Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.‘ Die Präsenz alliierter Truppen in Deutschland ist im NATO-Truppenstatut sowie seinem Zusatzprotokoll geregelt.“ (1) Wie ist diese Stellungnahme zu bewerten?

Notenwechsel im Gefolge des 2+4-Vertrags „kein Beweis für unvollständige Souveränität“

Die Aussage des Auswärtigen Amtes entspricht dem Resümee des Wissenschaftlichen Dienstes, in dem es heißt: „Die Tatsache, dass verschiedene Bestimmungen und Maßnahmen der Besatzungsmächte bestandskräftig sind, führt nicht zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland heute völkerrechtlich nicht vollständig souverän ist. Der Fortbestand des Besatzungsrechts basiert darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland freiwillig eine entsprechende völkerrechtliche Bindung eingegangen ist. Die Tatsache, dass sich ein Staat gegenüber anderen Staaten Bindungen auferlegt, ist jedoch kein Beweis für eine nur unvollständige Souveränität des Staates, sondern im Gegenteil gerade Ausfluß seiner Souveränität.“ Und es heißt in der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes: „Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur vollen Souveränität der Bundesrepublik stellten die sog. ‚Pariser Verträge‘ aus dem Jahr 1954 dar… Ein Teil der ‚Pariser Verträge‘ war … auch der sog. ‚Überleitungsvertrag‘. Dieser Vertrag wurde ebenfalls zwischen den drei Westmächten und der Bundesrepublik Deutschland geschlossen.“ (3)

Der Wissenschaftliche Dienst führt auch aus, welche Regelungen in Zusammenhang mit dem Besatzungsrecht weiterhin Gültigkeit haben. Dies ergibt sich aus einem Notenwechsel vom 27./28. September 1990 (4), den Deutschland mit den drei Westmächten USA, Großbritannien und Frankreich vollzogen hat. Demnach haben einige Regelungen aus dem Überleitungsvertrag von 1954, mit dem das Besatzungsstatut abgelöst wurde, weiterhin Gültigkeit. Der Blick in den Überleitungsvertrag (5) gibt Aufschluss darüber, worum es dabei geht.

Mit Überleitungsvertrag und 2+4-Vertrag auf dem Weg zur Souveränität

An erster Stelle ist dies folgendes: „Die Organe der Bundesrepublik und der Länder sind gemäß ihrer im Grundgesetz festgelegten Zuständigkeit befugt, von den Besatzungsbehörden erlassene Rechtsvorschriften aufzuheben oder zu ändern.“ (Überleitungsvertrag, Erster Teil, Art. 1, Absatz 1) Die im Überleitungsvertrag noch enthaltenen, anschließend formulierten Einschränkungen entfallen infolge des Notenwechsels. Zum Beispiel entfällt die folgende Einschränkung: „Vom Kontrollrat erlassene Rechtsvorschriften dürfen weder aufgehoben noch geändert werden.“ (Der Kontrollrat war die oberste Besatzungsbehörde mit der höchsten Regierungsgewalt.) Es geht hier bei der Modifikation von Artikel 1, Absatz 1 des Überleitungsvertrags also nicht um die Fortschreibung des Besatzungsrechts, sondern im Gegenteil um seine Aufhebung.

Andere Regelungen aus dem Überleitungsvertrag, die weiterhin Gültigkeit haben, berühren die Souveränität Deutschlands allerdings. Sie tun dies aber – insgesamt betrachtet – nur geringfügig.

Ein Beispiel: „Die Bundesrepublik verpflichtet sich, die Fortführung der Arbeiten zu gewährleisten, die gegenwärtig vom Internationalen Suchdienst durchgeführt werden… Die Bundesrepublik wird für die ordnungsgemäße Betreuung und Instandhaltung der Gräber alliierter Soldaten im Bundesgebiet… Sorge tragen.“ (Überleitungsvertrag, Siebenter Teil VERSCHLEPPTE PERSONEN UND FLÜCHTLINGE, Artikel 1 und 2)

Ein weiteres Beispiel: „Alle Urteile und Entscheidungen in nichtstrafrechtlichen Angelegenheiten, die von einem Gericht oder einer gerichtlichen Behörde der Drei Mächte oder einer derselben bisher in Deutschland erlassen worden sind oder später erlassen werden, bleiben in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam und sind von den deutschen Gerichten und Behörden demgemäß zu behandeln und auf Antrag einer Partei von diesen in der gleichen Weise wie Urteile und Entscheidungen deutscher Gerichte und Behörden zu vollstrecken.“ (Überleitungsvertrag, Erster Teil ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN, Artikel 5, Absatz 1) Also bleiben Urteile von Gerichten der Besatzungsmächte weiterhin rechtskräftig.





Stationierung ausländischer Streitkräfte vom Überleitungsvertrag nicht berührt

In keinem Fall geht es im Notenwechsel vom 27./28. September 1990 um die Stationierung ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland. Darum geht es im Truppenstationierungsvertrag (dem „Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland“) (6) und in einem weiteren Notenwechsel, dem vom 25. September 1990 (7), demgemäß der bis dahin unkündbare Truppenstationierungsvertrag mit Zwei-Jahresfrist kündbar geworden ist. Das vom Auswärtigen Amt genannte NATO-Truppenstatut ist diesbezüglich untergeordnet. Das geht aus einem umfassenden Artikel des Auswärtigen Amtes zum Thema „Truppenstationierungsrecht“ hervor (8). Darin werden Regelungen unterschieden, die das OB bzw. das WIE betreffen. Zu den Regelungen, die das OB beschreiben, also ob ausländische Streitkräfte in Deutschland stationiert sein dürfen, zählt der Truppenstationierungsvertrag. Zu den Regelungen, die das WIE der Stationierung beschreiben, zählt das NATO-Truppenstatut.

2+4-Vertrag gewährt Souveränität und gebietet Abzug ausländischer Streitkräfte

Abschließend sei noch die wichtige Rolle des Zwei-plus-Vier-Vertrags (9) hervorgehoben. Darin heißt es nicht nur „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“, sondern es wird auch die Verpflichtung zum Frieden betont. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag legt fest: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird.“ Und: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“ Wenn also „von deutschem Boden“ nur Frieden ausgehen darf, ist es geboten, die auf „deutschem Boden“ befindlichen, der weltweiten Kriegsführung dienenden US- und NATO-Militäreinrichtungen mittels Kündigung des Truppenstationierungsvertrags zu schließen. Der Notenwechsel vom 27./28. September 1990 steht diesem Schritt nicht im Wege. Dieser Schritt ist sogar zwingend geboten.

Fußnoten:

1 Bundespressekonferenz: Wieso gilt noch immer US-Besatzungsrecht in Deutschland?
RT-Deutsch-Artikel vom 13.05.2019
https://deutsch.rt.com/inland/88066-bundespressekonferenz-besatzungsrecht-gilt-in-deutschland/

2 Bundespressekonferenz: Wieso gilt noch immer US-Besatzungsrecht in Deutschland?
Wortwechsel zwischen RT-Deutsch-Redakteur Florian Warweg und dem Sprecher des Auswärtigen Amtes
RT-Deutsch-Video vom 13.05.2019
https://www.youtube.com/watch?v=xpGpKQdPKNM

3 Überleitungsvertrag und „Feindstaatenklauseln“ im Lichte der völkerrechtlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland
Ausarbeitung WD 2 -108/06  des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 21.06.2006
https://www.bundestag.de/resource/blob/414956/52aff2259e2e2ca57d71335748016458/wd-2-108-06-pdf-data.pdf

4 Notenwechsel vom 27./28. September 1990 zum Überleitungsvertrag
Bundesgesetzblatt Jahrgang 1990, Teil II, Seiten 1386 bis 1389
http://www.arbeiterfotografie.com/galerie/kein-krieg/hintergrund/bgbl290042_99955.pdf

5 Überleitungsvertrag (Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen) von 1954
https://www.hackemesser.de/ueberleitungsvertrag.html

6 Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland (Stationierungsvertrag)
http://www.abg-plus.de/abg2/ebuecher/abg_all/index.html

7 Notenwechsel vom 25. September 1990 zum Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland
Bundesgesetzblatt Jahrgang 1990, Teil II, Seiten 1390 bis 1393
http://www.arbeiterfotografie.com/galerie/kein-krieg/hintergrund/bgbl290042_99955.pdf

8 Truppenstationierungsrecht
Artikel des Auswärtigen Amtes, zuletzt abgerufen am 20.05.2019
https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/internatrecht/-/217066

9 Zwei-plus-Vier-Vertrag
http://www.arbeiterfotografie.com/galerie/kein-krieg/hintergrund/2-plus-4-vertrag.pdf

Siehe auch:

Grünes Licht für die Friedensbewegung
Zwei-plus-Vier-Vertrag kein Hindernis für „NATO raus – raus aus der NATO“
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 704 vom 04.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25871

Beschluss der IPPNW-Mitgliederversammlung, Stuttgart, 3. bis 5. Mai 2019
IPPNW fordert Kündigung des Truppenstationierungsvertrags
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 704 vom 08.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25888

Zum 70. Geburtstag der NATO
Lieber Donald!
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25799

Aktionskonferenz von „abrüsten statt aufrüsten“, Frankfurt/Main, 10.2.2019
Kündigung des Truppenstationierungsvertrags und NATO-Austritt gegen erbitterten Widerstand in die Diskussion gebracht
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25620

NATO raus – raus aus der NATO
Initialzündung für eine Kampagne der Friedensbewegung
NRhZ 551 vom 02.03.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22582


Banner der von Freidenkern und Arbeiterfotografie propagierten Initiative „NATO raus – raus aus der NATO“

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13 Kommentare

  1. "Deutschland trotz 2+4-Vertrag noch Besatzungsrecht unterworfen?"
    Ich weiß nicht, warum man um eine einfache Antwort "JA!" – wer etwas anderes erzählt, erzählt Mist! – einen solch langen Schriebs verfassen muß!
    Es muß unter allen Umständen verhindert werden, daß Deutschland eine Staatsform erhält, denn dann hätte Deutschland einen Anspruch auf einen Friedensvertrag!

  2. Achso, wir sind also eine souveräne Diktatur mit einer Verfassung, die nicht vom deutschen Volk bestimmt wurde. Interessant. Und  Gisy schwafelte was von Besatzungsstatut und Schäuble von …..seit 1945 nicht voll souverän? Und nicht zu vergessen was Obama in Ramstein sagte, wir sind besetzt und das wird sich auch nicht mehr ändern, oder so ähnlich. Hmm….

    Ich habe von dem Thema mittlerweile die Schnauze voll. Alles dreht sich nur im Kreis und keiner sagt verbindlich offiziell was Sache ist. Man nennt sich weiterhin überall BRD, obwohl BRD bei der UNO gestrichen und durch Germany ersetzt wurde. Also heißen wir eigentlich doch nur noch Deutschland.

  3.  Nun, ob rechtlich bzw. vertraglich betrachtet, was macht es für einen Unterschied, wenn man nach wie vor, tagtäglich an seine Schuld erinnert wird?

     Wenn die Staatsraison vorrangig, den Schutz welchen Staates vorgibt? Wenn nach wie vor, Bildungsreisen der "Schölerschaft" bevorzugt nach Dachau führen?

     Wenn Phönix und history nichts anderes zu tun haben, wie, uns eine gewisse Zeit, permanent um die Ohren zu hauen?

     Wenn die "Hauptstadtredaktionen" und die maßgeblichen Presseorgane nichts besseres zu tun haben, alles, aber wirklich alles, was nicht dem mainstream entspricht, als rechtspopulistisch zu bezeichnen?

     Aber, ob GG oder mutmaßliche Verfassung. Darum geht es gar nicht! Es geht um unser Denken. Es geht darum, daß man dieses, gelinde ausgedrückt, als unpassend empfindet! Es damit unterdrücken will!

     Man merke sich! Wer keine Argumente, keine Rechtfertigung für sein eigenes Handeln hat, der sucht danach, sein Gegenüber in´s Unrecht zusetzen!

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