Der Untersuchungsausschuss-Antrag von BSW und CDU in Thüringen

von Norbert Haering

Gemeinsam haben 15 Abgerodnete der  Fraktion des BSW und vier der CDU im Thüringer Landtag am 24. Oktober einen Antrag auf Einsetzung eines Ausschusses zur Untersuchung der Corona-Maßnahmenpolitik der rot-rot-grünen Landesregierung eingereicht. Weil er nicht leicht zu finden ist, dokumentiere ich ihn hier, leicht gekürzt um Absätze mit Formalien.

Der Antrag ist auf der Netzseite des Thüringer Landtags zu finden. Ähnliche Anträge von AfD (angenommen) und BSW (abgelehnt) in Sachsen finden sich auf der Netzseite des Sächsischen Landtags.

Antrag

der Abgeordneten Dr. Augsten, Behrendt, Herzog, Hoffmeister, Hupach, Hutschenreuther, Kästner, Kobelt, Kummer, Küntzel, Quasebarth, Schütz, Wirsing, Dr. Wogawa und Wolf der Fraktion des BSW sowie der Abgeordneten Bühl, Malsch, Meißner und Prof. Dr. Voigt der Fraktion der CDU auf

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

zur Untersuchung der Maßnahmen der Landesregierung zur Eindämmung und Bewältigung der Infektionskrankheit COVID-19 im Hinblick auf Fehler, Versäumnisse und Handlungsempfehlungen für die Zukunft

(…)

A. Der Untersuchungsausschuss soll

I. Handlungen und Unterlassungen der Landesregierung im Rahmen ihrer Politik zur Eindämmung und Bewältigung der Infektionskrankheit COVID-19 bis zum 30. September 2024 umfassend untersuchen;

II. aufklären, ob die COVID-19-bezogenen Maßnahmen der Landesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden, welche überwiegend in Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse von Ministerpräsidentenkonferenzen unter Beteiligung der Bundesregierung getroffen wurden, eine ausreichende gesetzliche Basis hatten und ob sie mit dem Rechtsstaatsprinzip im Allgemeinen und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip im Besonderen sowie sonstigen verfassungsrechtlichen Prinzipien vereinbar waren;

III. aufklären, ob vermeidbare Fehler im Umgang mit COVID-19 gemacht wurden;

IV. aus den Erkenntnissen seiner Untersuchung Handlungsempfehlungen ableiten, um beim Umgang mit künftigen Ausbrüchen von neuartigen Infektionskrankheiten Fehler zu vermeiden und staatliche Strukturen resilienter gegen medizinische Notfalllagen machen.

B. Der Untersuchungsausschuss soll im Einzelnen folgende Fragen klären:

I. Rechtliche Basis

1. In welchem Umfang waren die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz als informellem Gremium maßgebend für die von der Landesregierung erlassenen Verordnungen? Hatten diese Beschlüsse de facto eine exekutive Wirkung, sodass bis zur Einführung einer verpflichtenden Beteiligung des Landtags bei der Vorbereitung einschlägiger Rechtsverordnungen durch Beschluss des Landtags vom 18. Dezember 2020 (Drucksache 7/2459) am Parlament vorbei Entscheidungen über Grundrechtseinschränkungen getroffen wurden?

2. Sahen sich die Landesregierung beziehungsweise ihre jeweils zuständigen Ressorts durch die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenzen in ihrer Entscheidungsfreiheit beschränkt beziehungsweise welchen rechtlichen Charakter maßen sie diesen Beschlüssen zu? Wie ist diese Sichtweise retroperspektiv rechtlich zu beurteilen?

3. Verzichtete die Landesregierung auf die eigenverantwortliche Ausübung ihrer Kompetenzen, indem sie lediglich die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenzen umsetzte?

4. Waren die Rechtsverordnungen, Allgemeinverfügungen und Anweisungen der Landesregierung an die Landkreise und Kommunen jederzeit in ihrem vollen Umfang durch die Ermächtigung im Infektionsschutzgesetz gedeckt?

5. Wurde insbesondere im weiteren zeitlichen Verlauf der Eindämmungsmaßnahmen die Möglichkeit geprüft, diese Maßnahmen statt auf dem Verordnungswege über verordnungsersetzende Parlamentsgesetze oder unter Nutzung von Möglichkeiten des beschleunigten Erlasses von Landesgesetzen zu treffen?

6. Soweit von der Landesregierung erlassene Vorschriften sich nach den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses als nicht geeignet, nicht erforderlich oder nicht verhältnismäßig im engeren Sinne herausstellen sollten, ist es rechtlich und gesellschaftspolitisch beziehungsweise ethisch möglich oder geboten, anhängige Bußgeldverfahren wegen Verstoßes gegen solche Vorschriften oder wegen Beihilfe zu ihrer Umgehung einzustellen und/oder bereits bezahlte Bußgelder rückzuerstatten?

7. Wie und anhand welcher Kriterien hat die Landesregierung die von ihr getroffenen Maßnahmen und die hierdurch verursachten Grundrechtseinschränkungen rechtlich begründet?

II. Strategische Ziele der Maßnahmen

1. Welche konkreten strategischen Ziele (zum Beispiel „flatten the curve“ [Abflachung der Ausbreitungskurve]) verfolgte die Landesregierung mit den Maßnahmen im Zeitablauf und wie begründete sie einen Wechsel in den Zielen?

2. Waren die jeweils den getroffenen Maßnahmen zugrundeliegenden strategischen Ziele der Landesregierung mit Blick auf die zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandene Datenlage und die wissenschaftlichen Erkenntnisse angemessen?

III. Krisenkommunikation

1. Welche Rolle spielte das vom Bundesministerium des Innern und für Heimat beauftragte Papier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ für die Kommunikation der Landesregierung mit der Öffentlichkeit und für die Auswahl, Ausgestaltung und Dauer der von der Landesregierung verfügten Eindämmungsmaßnahmen?

2. Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage beziehungsweise welchem Kenntnisstand basierten die öffentlichen Aussagen der Mitglieder der Landesregierung zu COVID-19?

3. Welche Wirkungen hatten Äußerungen der Landesregierung und ihrer Mitglieder auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft beziehungsweise auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

4. Unternahm die Landesregierung das Notwendige, um die Bevölkerung über den richtigen Umgang mit Schutzmasken zu informieren, damit diese geeignete und keine unerwünschten Wirkungen entfalten konnten?

5. Informierte die Landesregierung die Bürger ausreichend über zweckmäßige Maßnahmen und individuelle Verhaltensweisen zur Vermeidung von Gesundheitsrisiken und zur Bewältigung einer COVID-19-Infektion?

6. Informierte die Landesregierung die Bürger ausreichend über die jeweils gültigen Vorschriften und die Konsequenzen einer Nichtbeachtung?

IV. Datengrundlage

1. Wie war die epidemiologische Lage am 24. März 2020, als die Landesregierung die ersten Grundrechtsbeschränkungen beschloss?

2. Traf die Landesregierung ihre zur Umsetzung von gemeinsamen Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenzen erfolgten Maßnahmen, insbesondere die weitreichenden Grundrechtsbeschränkungen, auf Basis einer ausreichenden Datengrundlage?

3. Auf welcher Datengrundlage zum Infektionsgeschehen und welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen (zum Beispiel Studien) entschied die Landesregierung über die einzelnen Eindämmungsmaßnahmen, insbesondere die Schließung von Geschäften, Dienstleistungseinrichtungen, Kultureinrichtungen und Schulen sowie Bewegungseinschränkungen zur Kontaktreduzierung von infizierten und von nicht infizierten Bürgern?

4. Reagierte die Landesregierung auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse mit verbindlichen Strukturen, um auf ebendiese neue Lage einzustellen?

5. Evaluierte die Landesregierung die ergriffenen Maßnahmen ausreichend und sachgerecht, insbesondere im Hinblick auf Wirksamkeit, schädliche Auswirkungen und Fortgeltung der Entscheidungsgrundlagen?

6. Soweit Maßnahmen explizit oder implizit an bestimmte Schwellenwerte von Indikatoren wie positive COVID-19-Testergebnisse, Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19 oder Intensivbettenbelegungen im Zusammenhang mit COVID-19 geknüpft wurden, stellte die Landesregierung sicher, dass die verwendeten Kennzahlen so ausgewählt und erhoben wurden, dass sie die Entwicklung des Infektionsgeschehens, der Morbidität und der Letalität von COVID-19 und eine eventuell drohende Überlastung des Gesundheitswesens sinnvoll abbildeten?

7. Bildete sich die Landesregierung zur Beurteilung der Gefährdungslage ein eigenes, fundiertes Urteil anhand auch regionaler Daten und Erfahrungsberichte?

8. Verfügte die Landesregierung über hinreichend verlässliche Daten betreffend den Schutz durch Impfung vor Ansteckung und Virus-Weitergabe, um den Ausschluss nicht geimpfter Personen vom öffentlichen Leben mittels der sogenannten G-Regeln zu rechtfertigen? Wiesen diese Daten während der gesamten Geltungsdauer solcher Regeln verlässlich auf einen starken Schutz geimpfter Personen vor Ansteckung und Weitergabe des Virus hin?

9. Welche Maßnahmen der Landesregierung waren medizinisch notwendig?

10. Welche Gefahren für welche Bevölkerungsgruppen bestanden in welcher Phase der Pandemie? Wie veränderten sich diese Gefahren im Laufe der Pandemie?

11. Welche medizinischen und epidemiologischen Notwendigkeiten bestanden zu Beginn der Pandemie und inwieweit veränderten sich die Notwendigkeiten im Zuge der Pandemie?

12. Welche Folgen hätte ein Nichthandeln der Landesregierung gehabt, beurteilt zum einen auf Grundlage des damaligen Wissenstands und zum anderen in der Nachbetrachtung?

13. Inwieweit hatte die Berichterstattung der Medien Einfluss auf die Entscheidungen der Landesregierung?

14. Welche Kenntnis hatte die Landesregierung über schwere Nebenwirkungen von Impfungen gegen COVID-19 und welche Anstrengungen unternahm sie, sich hierüber zu informieren?

V. Negative Auswirkungen der Pandemieschutz-Maßnahmen

1. Welche Auswirkungen hatten die Pandemieschutz-Maßnahmen der Landesregierung nach aktuellem Kenntnisstand auf die psychische und physische Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere von Kindern und Jugendlichen, auf die Bildungschancen der Kinder, auf das gesellschaftliche Klima, auf die Menschen in Pflegeeinrichtungen und auf die wirtschaftliche Lage von Arbeitnehmern, Selbstständigen und Unternehmen im Land?

2. Waren die vorhandenen Strukturen in den Bildungseinrichtungen geeignet, den Wechsel- und Distanzunterricht, insbesondere für Erreichung und Umsetzung der Inhalte und Ziele des Bildungsplans des Landes und der Lehrpläne sowie der einheitlichen Prüfungsanforderungen, zu gewährleisten?

3. Welche Auswirkungen hatten die pandemiebedingten Einschränkungen auf die Qualität des Unterrichts, einschließlich der Verfahren zur Lernstands-Erhebung und der Sicherstellung des Kompetenzerwerbs?

4. Welche Auswirkungen hatten die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen und landesbehördlichen Vorgaben und Empfehlungen bei der Nutzung von digitalen Videokommunikationsplattformen und Videoportalen im schulischen Unterricht?

5. Waren die Zutrittsbeschränkungen an Schulen sowie in den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen für Eltern, Angehörige, Externe und Dienstleister aus damaliger und heutiger Sicht angemessen?

6. Reagierte die Landesregierung angemessen auf Erkenntnisse über auftretende negative Nebenwirkungen der Maßnahmen und tat die Landesregierung das Nötige, solche Erkenntnisse zu gewinnen und zu bewerten?

VI. Einbeziehung des Landtags

1. Wie wurde mit Einwänden aus dem Landtag (Befassung des Ältestenrats und der Ausschüsse für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung sowie für Bildung, Jugend und Sport) umgegangen und welche Rolle spielten diese in der Erarbeitung der Verordnungen?

2. Welche Rolle spielten der Landtag, die Fraktionen, die Parlamentarischen Gruppen und deren Stellungnahmen für den Verordnungsgeber? Wurde der Landtag seiner Rolle angemessen zeitig über beabsichtigte neue Verordnungen informiert? Welche Bearbeitungs- und Reaktionszeit blieb dem Landtag sowie seinen Fraktionen und Parlamentarischen Gruppen?

3. Wurden Einwände des Landtags bei der Erarbeitung und dem Erlass der jeweiligen Verordnung berücksichtigt? Wie wurde eine systematische Bearbeitung der Einwände gewährleistet? Wurde das praktizierte Verfahren als geeignet angesehen?

VII. „Beirat zum SARS-2/CoVID-19-Pandemie- und Pandemiefolgenmanagement der Thüringer Landesregierung“ (Wissenschaftlicher Beirat)

1. Welche Rolle spielte der Wissenschaftliche Beirat und wie wurde er von der Landesregierung beteiligt?

2. Welche Hinweise des Wissenschaftlichen Beirats wurden nach welchem zeitlichen Vorlauf aufgenommen? Wurden auch kritische Hinweise des Wissenschaftlichen Beirats zügig aufgenommen? In welchen Fragen wurde von Voten des Wissenschaftlichen Beirats abgewichen?

VIII. Weitere Maßnahmen

1. Prüfte und setzte die Landesregierung zweckmäßige Maßnahmen um, die dazu beigetragen hätten, einen ausreichenden Bevölkerungsschutz vor Gesundheitsgefahren bei geringeren Grundrechtseingriffen zu erreichen?

2. Unternahm die Landesregierung alles Sinnvolle und Notwendige, um die Kapazität des Gesundheitssystems des Landes zu erhöhen und damit das Infektionsgeschehen im Zusammenhang mit COVID-19 zu bewältigen?

3. Waren die Strukturen und vorhandenen Schutzmaßnahmen sowie das Vorgehen der Landesregierung bei der Beschaffung notwendiger Schutzausrüstungen und Testkapazitäten, insbesondere in den Bildungs-, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, ausreichend?

IX. Lehren

1. Waren die Krisenstabsstrukturen der Landesregierung arbeitsfähig und wurden sie effektiv eingesetzt?

2. Wie bewertete die Landesregierung selbst ihre Krisenstabsstrukturen im Nachgang der Pandemie und welche Vorkehrungen hat sie für zukünftige Krisen getroffen?

3. Welche Lehren für die Zukunft sind aus der Untersuchung zu ziehen, insbesondere im Hinblick auf die (Neu-)Formulierung eines Pandemieplans des Landes und den künftigen Umgang mit Infektionsschutzmaßnahmen, der Vorhaltungen medizinischer Güter und resilienter Beschaffungswege? Welche Strukturveränderungen und gegebenenfalls weitere Maßnahmen sind im Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes über den ÖGD-Pakt hinaus zu treffen, damit dieser seiner subsidiären und sozialkompensatorischen Ausrichtung für Bevölkerungsgruppen, für die es keinen oder nur einen erschwerten Zugang zur individualmedizinisch ausgerichteten Regelversorgung gibt, gerecht werden kann sowie eine effektive und landesweit einheitliche Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung des Landes sichergestellt werden kann?

4. Welche Maßnahmen sind im Bereich des Bevölkerungsschutzes notwendig, um das Risiko- und Krisenmanagement im Land unter Beteiligung aller Akteure weiterzuentwickeln, um die Bürgerinnen und Bürger und ihre Existenzgrundlagen besser zu schützen sowie die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit des Gemeinwesens (auch von Kindern und Jugendlichen) gegenüber Katastrophen zu stärken?

5. Wie kann die im Verlauf der Corona-Pandemie auf Landes- und kommunaler Ebene praktizierte Beteiligung relevanter Akteure und der Bevölkerung an der Entwicklung von Maßnahmen und der Information über Maßnahmen weiterentwickelt werden und welche Empfehlungen zur Stärkung der demokratischen Partizipation und einer transparenten, verständlichen und verlässlichen Kommunikation sowohl für die Bürgerinnen und Bürger als auch für die professionellen Akteure sind umzusetzen?

(…)

Begründung:

Ende des Jahres 2019 traten in der Stadt Wuhan in der Volksrepublik China Fälle einer schweren Lungenerkrankung auf. Als Verursacher wurde die bis dahin unbekannte Corona-Virus-Art SARS-CoV-2 festgestellt. Am 27. Januar 2020 wurde das Virus zum ersten Mal offiziell auch in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt. Aufgrund seiner weltweiten Ausbreitung rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 11. März 2020 eine globale Pandemie aus und nannte die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte Infektionskrankheit COVID-19. In Folge wurden in Deutschland seitens der Bundesregierung und der Landesregierungen weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung der Infektion ergriffen. Behördliche Reaktionen waren nötig, denn durch COVID-19 befanden sich im Frühjahr 2020 die Gesellschaften weltweit in einer kritischen Situation. Niemand hatte ein Patentrezept. Es gab in Thüringen keine Blaupausen für Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, insbesondere lagen behördliche Pandemiepläne nur eingeschränkt vor.

Ab März 2020 beschlossen die Bundesregierung und die Landesregierungen gemeinsam weitreichende Maßnahmen, die die gesamte Bevölkerung betrafen. Dazu gehörten Grundrechtseingriffe, die auch die Thüringer Landesregierung überwiegend per Verordnung verfügte. Hierbei wurden insbesondere folgende Grundrechte eingeschränkt: Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG), Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Freistaats Thüringen (ThürVerf); die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 ThürVerf; die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf; die Freizügigkeit aus Art. 11 GG, Art. 5 Abs. 1 ThürVerf; die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG, Art. 35 Abs. 1 ThürVerf; die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG, Art. 10 Abs. 1 ThürVerf; die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 2 ThürVerf; sowie der Schutz personenbezogener Daten aus Art. 6 Abs. 2 ThürVerf, Art. 8 der EU-Grundrechtecharta.

Rechtliche Grundlage der zumeist per Verordnung verfügten Grundrechtseinschränkungen zur Eindämmung von COVID-19 war eine Ermächtigung im Infektionsschutzgesetz. In Thüringen unterlagen die diesbezüglichen Verordnungen seit Mitte Dezember 2020 einem Parlamentsvorbehalt dergestalt, dass der Landtag bei der Vorbereitung einschlägiger Rechtsverordnungen verpflichtend zu beteiligen war (vergleiche Beschluss des Landtags vom 18. Dezember 2020, Drucksache 7/2459).

Dazu war in der Verordnung festgelegt: „Die für Infektionsschutz zuständigen Ministerien haben im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit diese Verordnung ganz oder teilweise zu ändern oder aufzuheben, sofern der Landtag durch Beschluss dazu auffordert.“ Eine parlamentarische Rückbindung der Pandemiebekämpfung war damit erstmals gegeben. In den Bund-Länder-Koordinierungsrunden, den sogenannten Ministerpräsidentenkonferenzen, wurde die bundesweit einheitliche oder von einheitlichen Kennzahlen abhängige Einführung, Verlängerung, Anpassung und Beendigung von Maßnahmen jedoch vorab verabredet.

Alle Länder, auch Thüringen, setzten in aller Regel mit ihren Verordnungen und Verfügungen diese Verabredungen um. Da es sich bei der Ministerpräsidentenkonferenz um ein informelles, im Grundgesetz nicht vorgesehenes Gremium handelt, ist zu fragen, ob die Landesregierung durch die Umsetzung der dortigen Beschlüsse teilweise auf ihre vom Parlament zu überwachende, eigenständige Kompetenzausübung verzichtete. Rechtliche Grundlage der zumeist per Verordnung verfügten Grundrechtseinschränkungen zur Eindämmung von COVID-19 war eine Ermächtigung im Infektionsschutzgesetz.

Die Corona-Pandemie und die getroffenen Eindämmungsmaßnahmen haben die Gesellschaft fraglos vor nie dagewesene Herausforderungen gestellt und zu erheblichen Belastungen in wesentlichen Lebensbereichen geführt. Eine parlamentarische Aufarbeitung ist dringend nötig, um Verantwortlichkeiten und Entscheidungsstrukturen beziehungsweise -prozesse aufzuklären sowie Lehren für künftige Pandemien zu ziehen. Im Mittelpunkt müssen vor allem die landespolitischen Maßnahmen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft stehen.

Die Aufarbeitung ist auch deshalb erforderlich, weil viele der getroffenen Maßnahmen schon früh kritisiert wurden, ohne dass es zu wesentlichen Änderungen kam. So waren die zur Einschätzung der regionalen und überregionalen Gefahrenlage verwendeten Indikatoren der Kritik von fachkundiger Seite ausgesetzt, wurden jedoch überwiegend nicht korrigiert. Das betraf etwa die Inzidenzwerte, also die positiven Corona-Tests je 100.000 Einwohnern, ohne Berücksichtigung der Anzahl der durchgeführten Tests und ohne Berücksichtigung des Anlasses beziehungsweise der Anlasslosigkeit der Tests.

In der allgemeinen Öffentlichkeit, die frühzeitig vor Überreaktionen und ungeeigneten Maßnahmen warnte, standen beispielsweise die Kita- und Schulschließungen sowie der Umgang mit den Bewohnern von Pflegeeinrichtungen im Mittelpunkt der Kritik an den Pandemieschutzmaßnahmen, da sie nicht selten als Bevormundung und Ausgrenzung verstanden wurden. Auch dem Robert Koch-Institut bekannte wissenschaftliche Untersuchungen machten schon früh darauf aufmerksam, dass von
Schulen und Kindertagesstätten kein besonderes Risiko für die Verbreitung des Virus ausging. Trotzdem hielt die Landesregierung im Einklang mit Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz an Schulschließungen fest. Dadurch waren gerade Kinder und Jugendliche mit erheblichen individuellen Einschränkungen und Entbehrungen konfrontiert. Die Kontaktbeschränkungen führten für viele Betroffene zu erheblichen Einschnitten im Lebensalltag und enormen Zukunftsängsten.

Von Beginn der COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen an waren und sind die Ziele, Strategien und Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen zur Pandemiebekämpfung deshalb Gegenstand der öffentlichen Debatte. Ein weiterer Grund für die erforderliche Aufarbeitung ist, dass es in einem bislang nicht gekannten Ausmaß zu einer für viele Menschen als sehr belastend empfundenen Spaltung der Gesellschaft gekommen ist. Eine Prüfung der relevanten Entscheidungen, Datengrundlagen und der behördlichen Berichterstattung in Thüringen steht bislang aus. Sie soll durch einen Corona-Untersuchungsausschuss realisiert werden.

Eine vorbehaltlose und glaubwürdige parlamentarische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Maßnahmenpolitik ist somit eine Grundvoraussetzung dafür, bis heute anhaltende Spannungen in der Gesellschaft abzubauen und deren Spaltung zu beenden. Wichtig ist zudem, die im Rahmen der parlamentarischen Aufarbeitung gewonnenen Ergebnisse für zukünftige Entscheidungen nutzbar zu machen und insbesondere Handlungsempfehlungen für die Bildungs-, Gesundheits- und Innenpolitik im Umgang mit zukünftigen Pandemien zu entwickeln.

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