Der Colonel, den zu hassen wir liebten

Eric S. Margolis

Während Millionen von trauererfüllten Venezolanern sich nach dem verfrühten Tod des 58-jährigen Präsidenten Hugo Chavez in den Straßen von Caracas drängten, tauchten Erinnerungen an den September 1970 auf, wo ein gleichermaßen auffälliger, umstrittener Anführer, Ägyptens Colonel Gamal Abdel Nasser unvermittelt im Alter von nur 52 Jahren an einer Herzattacke starb.

Nassers Tod erschütterte Ägypten in Trauer. Die Menschen fühlten, dass ihr geliebter Vater gestorben war. Weststaatler konnten Ägyptens Schmerz nicht verstehen. Immerhin hatte Nasser zwei desaströse Kriege mit den Israelis und einen in Jemen verloren. Er machte aus der ägyptischen Wirtschaft einen Sauhaufen, schuf eine riesige mürrische Bürokratie und Geheimpolizei und herrschte mehr durch die Stärke der Persönlichkeit als durch die zuständigen Institutionen.

Ungeachtet dieser schweren Fehler verehrten die Ägypter Nasser als einen Helden, den Mann, der ihre Würde nach Jahrtausenden Fremdherrschaft ihre Würde wiederherstellte, einen unkorrumpierbaren Führer, der sein Volk aufrichtig liebte und eingehend für es sorgte. Ägyptens reiche Elite und die Mächte des Westens hassten Nasser. Aber letztlich hob sein wackeliger Arabischer Sozialismus die unterste Klasse der Gesellschaft aus der ärgsten Armut heraus und beförderte Ägypten in das 20. Jahrhundert.

Nasser war ein Großer Satan für die ehemaligen europäischen Kolonialmächte Britannien und Frankreich und für die Erben des britischen Weltreiches, die Vereinigten Staaten von Amerika. Nachdem Nasser den von den Briten betriebenen Suez-Kanal verstaatlichte, geißelten westliche Medien ihn als „Hitler am Nil,“ Kommunist und Umstürzler.

Eine lange Reihe von anderen Staatsführern der Dritten Welt wurde angeprangert und verteufelt, weil sie Anlagen in westlichem Besitz verstaatlichten: Mohammed Mossadegh im Iran, Fidel Castro in Kuba, Irans Ayatollah Khomeini, Libyens Gaddafi und Iraks Saddam Hussein wegen der Verstaatlichung ihrer Erdölindustrie. Lt. Colonel Chavez, viertgrößter Erdöllieferant der Vereinigten Staaten von Amerika, war der jüngste, aber sicher nicht der letzte.

Chavez war ein „Caudillo” vom alten lateinamerikanischen Schlag: eine übergroße ungestüme Machopersönlichkeit, geliebt von den Frauen, ein Mann, der von seiner eigenen Stimme entzückt war, ungeduldig gegenüber den Regeln der demokratischen Regierung, gleichgültig gegenüber den Bedürfnissen von Handel und Industrie. Für Journalisten eine erfreuliche Abwechslung nach den hirnbetäubenden Politikern der Europäischen Union.

Ob man „Robin Hood“ Chavez hasst oder liebt, es bleibt jedenfalls die Tatsache, dass er es schaffte, Venezuelas erschreckende Armutsrate in den letzten zehn Jahren zu halbieren. Er benützte Venezuelas Reichtum an Erdöl für die Errichtung von Schulen, Krankenhäusern, Kliniken, erschwinglichen Wohnungen und Universitäten. Seine Regierung scheint ziemlich ehrlich gewesen zu sein gemessen an den üblichen lateinamerikanischen Standards. Er fing keine Kriege an, schickte keine Drohnen, um Menschen zu töten, ließ nicht foltern. Chavez gewann 13 von 14 Wahlen, fair und anständig laut ausländischen Beobachtern. Das Wahlsystem Venezuelas erwies sich als zuverlässiger als das von Ohio oder Florida.

Aber der angriffslustige Colonel konnte es halt nicht lassen, die Vereinigten Staaten von Amerika und deren Alliierte unerbittlich zu kritisieren und wagte es, das Yankee-„Weltreich“ anzuprangern – das es angeblich nicht gibt. Chavez verlieh dem endemischen Antiamerikanismus seine Stimme, der in ganz Lateinamerika existiert, obwohl die Ära der direkten militärischen Intervention und Okkupation durch die Vereinigten Staaten von Amerika vorbei zu sein scheint.

Washington, das Chavez als Fidel Castro II oder einen weiteren Che Guevara betrachtete, begann einen anti-Chavez Propagandakrieg. Für die Washingtoner Kreise der großen Macht/des großen Geldes war Chavez ungehorsam, beleidigend und gefährlich.

Es wird bereits behauptet, dass sein Tod auf irgendein Hightechgift zurückzuführen ist. Das klingt unwahrscheinlich – obwohl es da die über 600 Versuche gibt, Fidel Castro umzubringen, und Yasser Arafat 2004 wahrscheinlich ermordet wurde.

Chavez gründete einen Klub von antiamerikanischen Winzlingen, bestehend aus Kuba, Ecuador, Bolivien, Argentinien, Iran und diversen Feinden der Vereinigten Staaten von Amerika, was Washington noch weiter auf die Palme trieb. Israel beteiligte sich am anti-Chavez-Jihad, indem es still und leise dessen konservativen Widersacher Enrique Capriles unterstützt, welcher jüdischer Abstammung ist. Brasilien unterstützte Chavez im Stillen.

Es ist schwer zu glauben, dass der „Chavismo” lange ohne den lebhaften Chavez fortbestehen kann. Sein mürrischer sozialistischer Nachfolger Nicolas Maduro, ein ehemaliger Busfahrer, hat das Charisma eines platten Reifens. Venezuelas Militär jedenfalls scheint hinter Maduro zu stehen. In einem Monat werden Wahlen abgehalten. Viele Venezolaner, die die Nase voll haben von steigender Kriminalität, zusammenbrechender Infrastruktur und Bürokratie, wollen eine Änderung. Aber eine Stimmenmehrheit aus Sympathie für Chavez besonders unter den Frauen könnte den Wahlausgang bestimmen.

Es scheint jedoch auch klar zu sein, dass Chavez’ groß verkündete Bolivarische Revolution, welche Lateinamerikas erneuern, die Lebensbedingungen seiner verarmten Völker heben, die Beherrschung des Kontinents durch die Vereinigten Staaten von Amerika brechen und revolutionären Sozialismus einführen sollte, gelaufen ist. Der Verlust von Chavez und der bald zu erwartende Abgang der Castro-Brüder bedeutet, dass Lateinamerika auf dem Weg ist in ruhigere, produktivere, aber sicher weit weniger farbige und aufregende Zeiten.

Quelle: antikrieg

 

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