Der «Bumerang»-Effekt der Globalisierung

Markus Mugglin (infosperber)

Wächst die Kluft zwischen Reich und Arm seit der Globalisierung? Dazu ein Lehrstück über Statistiken und Ideologie.

Was haben ein Elefant und ein Bumerang mit der Globalisierung zu tun, was haben sie gemeinsam oder inwiefern unterscheiden sie sich? Die Frage mag irritieren. Bildlich übertragen in Kurven-Diagramme haben sie viel gemeinsam. Denn beide veranschaulichen die globale Entwicklung der Einkommen. Sie sind zugleich aber sehr verschieden, bilden sie doch diese Entwicklung ganz anders ab. Das eine Mal sieht die Kurve in Umrissen einem Elefanten ähnlich, das andere Mal einem Bumerang.

Das überrascht, jedenfalls auf den ersten Blick, haben doch die beiden Diagramme das gleiche Thema und basieren letztlich auf gleichen Fakten. Doch Realitäten werden bekanntlich oft unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Das gilt besonders für (wirtschafts-)politisch brisante Themen. Die Entwicklung der Ungleichheit im Zeitalter der Globalisierung ist ein solches Thema. Deshalb geht es um mehr als nur Statistik, wenn gefragt wird, ob die «Elefanten-» oder die «Bumerang-Grafik» die Wirklichkeit korrekter wiedergibt.

Die «Elefanten-Grafik» dient oft als Beleg, dass die Globalisierung den ärmeren Bevölkerungsschichten weltweit mehr nütze als den Mittelschichten in den reichen Ländern. Philippe Legrain vom Londoner «Open Political Economy Network» kommt gestützt auf diese Grafik in der kürzlich erschienenen Avenir Suisse-Publikation «Inequality and Equality» sogar ins Schwärmen (Seite 13 ff.) Geradezu Historisches soll sich ereignen. Denn erstmals seit der industriellen Revolution würden sich die globalen Ungleichheiten verringern. Das sei zu feiern.

Schöpfer der «Elefanten-Grafik» waren die beiden ehemaligen Weltbank-Ökonomen Branko Milanovic und Christoph Lanker. Bei der erstmaligen Publikation bildete die Grafik die Veränderungen zwischen 1988 und 2008 ab. Sie erregte weltweit grosses Aufsehen, wurde und wird noch immer oft als Beleg dafür zitiert, dass die wirtschaftliche Globalisierung für die grossen Mehrheiten der Welt von grossem Nutzen sei.

Dagegen hat die «Bumerang-Grafik» einen schweren Stand. Während die Elefanten-Grafik über Google in grosser Zahl aufscheint, ist die Plattform für die Suche nach der Bumerang-Grafik wenig hilfreich. Zu finden ist sie auf dem Blog von Jason Hickel, der an der «Goldsmith University of London» lehrt. Er sieht die Globalisierung kritisch. Sie hätte nicht nur die in der Nachkriegszeit bis in die 1970er erzielten Erfolge mancher armen Länder gebremst, sie habe vielmehr den Trend gekehrt. Seither nehme die Kluft zwischen Reich und Arm wieder zu statt ab. Die «Bumerang-Grafik» ist sein Beweisstück. Sie zeigt, wie die Einkommen oben und ganz besonders zuoberst viel stärker wachsen als unten.

Beide Grafiken spiegeln die Periode der Globalisierung seit 1980. Damals wurden die wirtschaftspolitischen Weichen neu gestellt. «Reaganomics» und «Thatcherismus» strahlten über die USA und Grossbritannien hinaus auf die globale Ebene und markierten die Wende vom Keynesianismus zum Monetarismus mit Deregulierung und Liberalisierung. «Elefant» und «Bumerang» – gehören deshalb zu den Werkzeugkästen im Streit um Segen oder Fluch der fast 40-jährigen Globalisierungsperiode.

Was sagt die Elefanten-Grafik (nicht)

Die (aktualisierte) «Elefanten»-Grafik bildet die globale Einkommensentwicklung für alle sozialen Schichten für die Periode 1980 bis 2016 ab. Ganz links befinden sich die Ärmsten der Weltbevölkerung, ganz rechts die Reichsten. Die Kurve zeigt an, wie stark die Einkommen der verschiedenen Gruppen in 36 Jahren gestiegen sind. Links steigen sie bis zum Buckel und dem Kopf des Elefanten stark an und markieren die grossen Einkommenssteigerungen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung. Danach fällt die Linie ähnlich dem Elefantenrüssel steil nach unten auf vergleichsweise geringe Einkommenssteigerungen für die Mittelschichten in den reichen Ländern.

«Elefanten-Grafik»: Relativ steigen die Einkommen unten stärker als oben

Quelle: Jason Hickel

Unten sind die Einkommen tatsächlich stark gestiegen. In der Beobachtungsperiode haben sie sich mehr oder weniger verdoppelt. Einzig die Superreichen zuoberst auf der Einkommenspyramide haben ihre Einkommen ebenfalls oder zumindest fast verdoppeln können. Die Einkommen der Reichen der Perzentile 70 bis 90 sind hingegen nur um 30 oder etwas mehr Prozent gestiegen, jene der Perzentile 60 und 99 um rund 40 Prozent. Zu diesen beiden Gruppen gehören die Mittelschichten in den reichen Ländern. Sie konnten ihre Einkommen zwar auch erhöhen, aber längst nicht so stark wie die unteren Schichten und die Top-Verdiener. Sie werden deshalb oft als Globalisierungsverlierer bezeichnet. Sie würden zu Anti-Globalisierungsreflexen neigen und hätten in den USA die Wahl von Donald Trump und in Grossbritannien den Brexit entschieden.





Aus einem Elefanten wird ein Bumerang

So eindeutig die Elefanten-Grafik stark steigende Einkommen für die Armen und fast Allerärmsten der Welt auch belegen mag, Anlass für Euphorie bietet sie trotzdem nicht. Denn die Steigerungen sind relativ, also in Prozenten ausgewiesen und nicht in absoluten Beträgen. Was noch harmlos tönt, erweist sich als sehr folgenreich. Denn die relativen Änderungen verleiten dazu, die Wirklichkeit schön zu reden. Werden die Einkommenssteigerungen in absoluten Dollar-Beträgen grafisch gestaltet, entsteht nämlich ein ganz anderes Bild. Jason Hickel formuliert es kurz und bildhaft: Es ist nicht mehr eine «Elefanten»-Grafik, es ist ein «Bumerang».

«Bumerang-Grafik»: Real steigen die Einkommen oben stärker als unten

Quelle: Jason Hickel

Der hohe Elefantenrücken, der Kopf und der abwärtsfallende Elefantenrüssel sind verschwunden. An ihre Stelle tritt auf tiefstem Niveau eine nur gering ansteigende Linie. Erst ab Perzentil 90, also für die 10 Prozent sehr Reichen der Welt, steigt die Kurve deutlich an, verläuft aber bis zum reichsten 1 Prozent vergleichsweise moderat nach oben. Steil in die Höhe schnellt die Linie für die reichsten 1 Prozent und ganz besonders für eine noch kleinere Minderheit der Weltbevölkerung. Das in den Umrissen einem Bumerang gleichende Bild vermittelt die Botschaft, je reicher desto stärker steigende Einkommen.

Hickel stützt sich bei seiner Bumerang-Grafik auf Daten des «World Inequality Report 2018» (siehe Tabelle).

Einkommensentwicklung nach Einkommensschichten (in US-Dollar)

Konkret entspricht die Verdoppelung der Einkommen für die unteren Schichten (zwischen 20 und 30 Prozent) einer Zunahme um 1223 Dollar pro Person und Jahr. Die viel geringere prozentuale Zunahme für die Perzentile zwischen 70 und 80 führt hingegen mit einem Anstieg um 2866 Dollar zu einer mehr als doppelt so starken Einkommenssteigerung. Und obwohl die reichsten 1 Prozent ihre Einkommen seit 1980 nicht ganz verdoppeln konnten, haben sie ihre Einkommen um satte 124’897 Dollar steigern können. Noch viel krasser ist der Anstieg beim obersten Promille.

Die Einkommen entwickeln sich folglich auseinander, obwohl die Steigerungsraten unten höher sind als bei den oberen (Mittel-)Schichten. Zwischen der Perzentile 20 bis 30 und jenen von 70 bis 80 steigt die Differenz um mehr als 1643 Dollar. Die Distanz zwischen den Angehörigen des Perzentile 20 und 30 zum obersten 1 Prozent hat sich sogar um 267’565 Dollar vergrössert, obwohl die Zuwachsrate unten deutlich höher lag als für die reichsten 1 Prozent. Die Globalisierung hat folglich entgegen vielfach geäusserter Behauptung die Kluft zwischen Reich und Arm nicht verringert. Im Gegenteil: Sie hat sich in den letzten 40 Jahren massiv vertieft.

Trotzdem gewisse Erfolge

Als Trost bleibt, dass die wachsende Kluft nicht mit einer Verschlechterung der Lage für die Ärmsten der Welt gleichzusetzen ist. Immerhin hat die Zahl der Menschen mit einem Einkommen von weniger als 1.90 US-Dollar pro Tag abgenommen. Auch der Globalisierungskritiker Jason Hickel anerkennt «einige beeindruckende Entwicklungen». 2015 starben jeden Tag 18’000 Kinder weniger als 1990, die Müttersterblichkeit hat sich in der gleichen Periode fast halbiert, HIV- und Malaria-Infektionen sind deutlich zurückgegangen.1)

Die Erfolge sind allerdings regional sehr ungleich verteilt. Sie konzentrieren sich vor allem auf Ostasien und den Pazifik. Für Verbesserungen steht in erster Linie China. Auch in Südasien hat sich die Zahl der Menschen in extremster Armut stark reduziert. Sehr schlecht sieht es hingegen in Süd-Sahara-Afrika sowie im Mittleren Osten und in Nordafrika aus. Deren Entwicklung lässt erahnen, dass das Ziel der UNO-Agenda 2030, die extreme Armut zu beenden, nicht erreicht wird.

Zahl der Menschen in extremer Armut

In Asien nimmt extreme Armut ab, nicht aber in Afrika. (Grafik: Max Roser/cc)

Die Erfolge in Asien interpretieren viele als Argument für den Segen der Globalisierung. Zweifellos haben China und einige andere Länder davon profitiert. Ihre Erfolge sind allerdings nicht das Ergebnis einer möglichst schnellen und radikalen Öffnung zum Weltmarkt hin. Im Gegenteil: Sie sind erfolgreich, weil sie gegen das vielfach angepriesene Erfolgsrezept einer radikalen Öffnung zum Weltmarkt verstossen. Sie haben – wie früher die Schweiz und andere europäische Staaten – zuerst wirtschaftliche Strukturen hinter protektionistischen Mauern aufgebaut, sie betreiben staatliche Industriepolitik und öffnen sich erst dann langsam und selektiv, wenn ihre Wirtschaftssektoren robust genug sind, um auf den Weltmärkten zu Gewinnern zu werden.

1) Jason Hickel, Die Tyrannei des Wachstums, Wie globale Ungleichheit die Welt spaltet und was dagegen zu tun ist, München 2017, Seite 56

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Dazu ein passendes Zitat aus unserer Zitatensammlung:

„Globalisierung ist nur ein anderes Wort für US-Herrschaft. (Henry Kissinger)

Wandere aus, solange es noch geht!

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2 Kommentare

  1. Denn erstmals seit der industriellen Revolution würden sich die globalen Ungleichheiten verringern. Das sei zu feiern.

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    Vielleicht hat er da sogar recht.

    Außer bei den 1 bis 10 % der Reichsten weltweit findet die Gleichmacherei (wie geplant!) statt. Das Ziel ist doch die restlichen 90 % in die Armut zu treiben. Und so wird weiter und weiter kontinuierlich von den 90 % zu den reichsten 10 % umverteilt. Bei den 90 % pendelt sich dies daraufhin wahrscheinlich auf einen relativ einheitlichen Armutslevel ein. Die Ungleichheit unter den 90 % verschwindet.

    Er hat nur vergessen zu erwähnen, dass die Ungleichheit zwischen den 10 und den 90 % wächst und wächst und wächst.

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