Der Brexit – ein Sieg des Establishments

Jürg Müller-Muralt (infosperber)

Der Brexit mag auch ein Alarmruf der Unterprivilegierten gewesen sein. Doch gestärkt wird ausgerechnet die Elite.

«Der Brexit war der erste Stein, der aus der Mauer des Establishments herausgeschlagen wurde»: Dies sagte Nigel Farage, Chef der Brexit-Partei, im Jahr 2018. Man mag vom Brexit halten, was man will; dass er aber ein schwerer Schlag für das britische Establishment war, stimmt nicht. Eher das Gegenteil trifft zu: Grossbritannien ist nach wie vor eine ziemlich verhockte Adels-, Privilegien- und Klassengesellschaft mit wenig sozialer Mobilität. Zumindest daran wird der Austritt aus der EU kaum etwas ändern.

Die Wortführer aus der Londoner City

Die Brexit-Debatte lief zwar über weite Strecken entlang der klassischen Argumentationslinien des Rechtspopulismus: Ihre Vertreter stilisierten sich zu den alleinigen Vertretern «des Volkes», als Verteidiger der «Zukurzgekommenen»: Die vielen Migrantinnen und Migranten, die Personenfreizügigkeit und überhaupt die ganze EU mit ihren einengenden Vorschriften vermiesen den hart arbeitenden britischen Familien den Aufstieg. Doch: «Es ist ein hartnäckiges Vorurteil, der Brexit sei das Werk von Abgehängten. Die Wortführer des ‹Leave› kommen aus der City of London», also vom Finanzplatz. Dies schreibt der frühere deutsche Diplomat Rudolf G. Adam in der NZZ. Adam hat zwei Bücher zum Brexit verfasst.

Vermögensverwalter, Investmentbanker, Rohstoffhändler

Premierminister Boris Johnson war schon seit seiner Zeit als Londoner Stadtpräsident bestens mit der City of London vernetzt. Diverse Herrschaften unterstützten ihn und die Brexit-Kampagne grosszügig mit Spenden. Sajid Javid etwa war 18 Jahre lang Banker. «Als Investmentbanker der Deutschen Bank hatte er mit einem Jahresgehalt von drei Millionen Pfund die hochriskanten Derivate mitzuverantworten, die zum globalen Finanzcrash 2007/2008 beitrugen», schreibt der Tagesspiegel. Heute ist Sajid Javid Schatzkanzler im Kabinett von Boris Johnson. Dem Schatzkanzler unterstehen im britischen Regierungssystem das Finanz- und das Wirtschaftsministerium. Er gilt deshalb neben dem Premierminister als mächtigster Posten in der Regierung.

Auch Kabinettsmitglied Jacob Rees-Mogg, Verfechter eines harten Brexits, kommt als Vermögensverwalter und Anlageberater aus der Finanzbranche. In der Regierung ist er Leader of the House of Commons und Lord President of the Council. Der britische Unternehmer Arron Banks wiederum war einer der massgebenden Geldgeber der Austrittskampagne und spendete gemäss der Süddeutschen Zeitung mehr als acht Millionen Pfund; sein Vermögen wird auf 100 Millionen Pfund geschätzt. Banks war einer der Mitinitianten der Leave-Bewegung und einer der Sponsoren von Nigel Farage. Und auch Farage selbst war vor seinem Einstieg in die Politik Rohstoffmakler und Investmentbanker – also selbst ein durchaus stromlinienförmiges Mitglied jenes Establishments, das er doch so sehr zu bekämpfen vorgibt.

Finanzwirtschaft als Hauptprofiteurin

Es ist offensichtlich: Die Finanzwirtschaft profitiert massiv vom Brexit. Ihr Hauptgeschäft liegt ohnehin weit weg von Europa. Die Finanzdienstleister «entziehen sich mit dem Brexit dem wachsenden Zugriff einer EU-Finanzaufsicht. Sie haben es nicht mehr mit fremden EU-Behörden zu tun, sondern mit einer nationalen Regierung, die ihnen durch zahllose persönliche Sympathien verbunden ist und die sich hüten wird, eine Branche unter Druck zu setzen, die mehr als 20 Prozent des gesamten Steueraufkommens generiert», schreibt Rudolf G. Adam.

Alarmruf der Unterprivilegierten

Für die unteren sozialen Schichten bedeutet das nichts Gutes. Dass viele aus sozialer Not, aus Frustration, aus Protest gegen eine abgehobene Elite dem Brexit zugestimmt hatten, ist offensichtlich. Es war also auch ein – kaum zielführender – Aufschrei gegen eine Politik, die vor allem die Lage der ohnehin Marginalisierten dauernd verschlechterte, durch sinkende Sozialausgaben und schwindende Renten. Ein erhellendes Licht auf die in Grossbritannien herrschenden, teils verheerenden sozialen Zustände warf der Brand im Londoner Grenfell-Tower 2017. Er forderte 81 Todesopfer. Der Wohnblock war völlig vernachlässigt und wurde aus Spargründen billig saniert. Im Verdacht stehen unter anderem nicht brandbeständige Aussenverkleidungen, die möglicherweise als Brandbeschleuniger gewirkt haben. Boris Johnson geriet damals von den als Helden gefeierten Feuerwehrleuten auch in die Kritik, weil er in seiner Zeit als Londoner Stadtpräsident der Londoner Feuerwehr Sparmassnahmen verordnete.





Der Zynismus des Establishments

Mit welchem Zynismus Vertreter des Establishments noch heute das Grenfell-Drama kommentieren, zeigt eine Äusserung von Jacob Rees-Mogg, der kürzlich gemäss der Zeit behauptete: «Diejenigen, die in der sozialen Wohnungssiedlung Grenfell Tower aufgrund mangelnder Feuersicherheit und planerischer Verantwortungslosigkeit elendig verbrannt sind, fehlte es einfach an common sense, an ‹gesundem Menschenverstand›.»

Eine Labour-Abgeordnete für den ansonsten schicken und wohlhabenden Londoner Bezirk Kensington, wo auch der Grenfell-Tower stand, berichtet gemäss der Zeit von den Lebensbedingungen in diesem Stadtteil: «Fünf Kinder, die sich eine Matratze teilen, Mangelernährung, giftiger Schimmel, chronische Krankheiten, all das habe sie zwischen Royal Albert Hall und Naturkundemuseum gesehen.»

Privilegiengesellschaft rettete sich in die Moderne

Die Hoffnung, dass der Brexit diesen Benachteiligten etwas bringt, ist trügerisch. Denn die Ursachen für die Armut und die verstörenden sozialen Unterschiede in der britischen Gesellschaft sind vielfältig – und sie haben kaum etwas mit der Europäischen Union zu tun. Grossbritannien hat erstens keine klassische bürgerliche Revolution erlebt. Auf dem europäischen Festland hat die Französische Revolution von 1789 mit ihren langfristigen Folgen die Privilegien und Sonderrechte des Adels gründlich abgeschafft, während sich die aristokratisch geprägte, stark segregierte britische Gesellschaft relativ unbeschadet in die Moderne hinüberretten konnte. Die neoliberale Politik der vergangenen 40 Jahre hat zweitens die sozialen Unterschiede weiter verschärft. Und drittens gilt das britische Bildungssystem nach wie vor als extrem undurchlässig.

Bildung ist eine Klassenfrage

Dies ist wohl einer der zentralen Punkte: Soziale Mobilität ist nur dort möglich, wo das Bildungssystem auch den sozial benachteiligten Schichten echte Chancen bietet. Doch in Grossbritannien hängt es noch heute von der Klassenzugehörigkeit ab, wer welche Schule besucht. Und das hat Folgen: «Nur sieben Prozent der Briten haben nicht-staatliche Schulen besucht, aber sie machen mehr als 70 Prozent der Justiz und des Militärs aus, 60 Prozent der höheren medizinischen Berufe und 50 Prozent der Journalisten, Verwaltung und sogar des Kabinetts», schreibt die Zeit. Mit anderen Worten: Die britische Elite besteht zu grossen Teilen aus Schülerinnen und Schülern teurer Privatschulen. Und vor allem aus Absolventinnen und Absolventen der traditionsreichen Spitzenuniversitäten Oxford und Cambridge. Die Hälfte der 54 britischen Premierminister studierte in Oxford, ein weiteres Viertel in Cambridge. Alle drei konservativen Brexit-Premiers, also David Cameron, Theresa May und auch Boris Johnson waren in Oxford.

Am Ende gewinnt immer die Bank

Es ist fast wie im Casino: Am Ende gewinnt immer die Bank. Wer glaubte, mit der Zustimmung zum Brexit dem Establishment eins auszuwischen, hat dieses Establishment bloss gestärkt. Die Person von Boris Johnson – mit vollem Namen Alexander Boris de Pfeffel Johnson – ist geradezu ein paradigmatisches Exemplar dieser britischen Elite. Der Mann ist weitläufig mit zahlreichen Staatsoberhäuptern aus dem europäischen Hochadel verwandt, mit dem Geldadel wahlverwandt, und er ist auch ein Grossneffe sechsten Grades von Königin Elisabeth II. Wer Johnsons exquisite Verwandtschaftsbeziehungen studieren will, tut das am besten in Wikipedia.

Brexit-Feier – sauber getrennt

Dass es mit der Volksnähe des clownesken Volkstribuns Boris Johnson nicht so weit her ist, zeigten auch die Feierlichkeiten vom 31. Januar 2020, am Tag, als Grossbritannien die EU verliess. Während Nigel Farage und seine Anhängerinnen und Anhänger ausgelassen und bierselig auf den Strassen feierten, liess sich der feine Premierminister nicht auf der Strasse blicken. Die Herrschaften der Konservativen Partei trafen sich zur Feier des Tages im privaten Kreis, entweder in Villen mächtiger Sponsoren oder in exklusiven Klubs. Exakt so, wie es sich für die britische Klassengesellschaft geziemt.

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Der Brexit – ein Sieg des Establishments
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2 Kommentare

  1. Der Verfasser trifft den Nagel auf den Kopf – er irrt aber mit seiner naiven Darstellung der frz. Revolution als "Motor der Rechte der Massen".

    Das war auch die frz. Revoluton nie gewesen – tatsächlich ebnete diese in F den Weg zu Zuständen, die im 19.Jahrhundert den englischen in nichts nachstanden.

    Mit der einen Ausnahme, daß die machthabende, frz.Geldelite -als Ergebnis der Revolution unter blutiger Verdrängung des Adels zur Macht gekommen- eben die typischen "nouveaux riches" des Bürgertums repräsentierte, die -später als "juste milieu" bekannt geworden und in dem (Gegen-)Terror der Kommune gipfelnd- anders als in England, wo Adel und Geld früh eine Symbiose eingingen (zumal da in England eben auch Juden geadelt wurden, was im Frankreich des Ancien Regime grundsätzlich nie der Fall war), nicht in der Kontiuität der Macht des Adels standen, sondern sich erst durch dessen Überwindung an der Spitze der Gesellschaft etablieren können.

    Die fehlende, historische Legitimation der frz. Geldaristrokatie und die mangelnde Festigkeit von deren Machtstrukturen mag dazu geführt haben, daß es in F nach dem Sturz Napoleons und dem Wiener Kongreß dann alle 20 Jahre wieder eine neue Revolution gab.

    Und zwar durch die Masse jenes "tiers etat", dem die initiale Revolution von 1789 Freiheit, bürgerliche Rechte und Brot versprochen hatte.

    Herausgekommen waren allerdings das "livre de compte", das ein rigides Zins- und Schuldregime zum Vorteile der Kreditgeber des Staates bedeutete -wer das war, mag sich jeder selbst überlegen- oder das ultraliberale "loi chapelier", ein Vorläufer dessen, was heute als "Neoliberalismus" und "Privaitisierung" notorisch ist.

     

     

     

     

     

  2. Meiner Meinung nach (ich bin u.a. Abonnent der englischen Zeitschrift The Spectator, eine der wichtigsten Stimmen der englischen Upper Class) eine ausgezeichnete Analyse. Sowie  es schon Rolf Peter Sieferle klar gesehen hatte.

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