Das Kind des Niedergangs

von Tatjana Wojewodina u.a. vom Starikow blog.
Übersetzung von Artur (vineyardsaker)

Vor kurzem traf ich eine Kindheitsfreundin. Wir fingen an uns zu erinnern, wer macht jetzt was und wo. Und es stellte sich eine einfache Tatsache heraus, die heute niemanden überrascht: nicht einer unserer Freunde arbeitet in einer Fachrichtung. Dabei nicht mal unbedingt in einer, welche man an einer Hochschule erhält – einfach in irgendeiner konkreten Spezialisierung. Alle sitzen nur irgendwo rum; machen irgendwas, was man auch nur schwer beschreiben kann: Jemand handelt, jemand sitzt im Büro… Es ist fast unmöglich, sich an jemanden zu erinnern, der etwas bestimmtes in seinem Leben gemacht, an sich gearbeitet hätte, ein Meister geworden wäre, Bekanntheit im Berufsumfeld erworben, Schüler aufgenommen hätte – völlig unabhängig davon, ob nun ein Professor oder ein Fräser. So etwas war charakteristisch für die Generation unserer Eltern; wir hingegen – diejenigen, welche heute langsam anfangen in die Rente zu gehen, haben in unserem Leben das und jenes probiert, manche haben dabei sogar richtig Geld verdient, aber niemand wurde ein Professioneller. Diejenigen, die welche wurden, sind eine Seltenheit, eine Ausnahme unter Ausnahmen.

Zu wem sind wir geworden? Zu niemandem.

Ja, unsere Generation wurde von der kapitalistischen Revolution des Jahres 91 entzwei gerissen. Wir haben es vor ihr nicht geschafft, uns endgültig zu formen; danach zerfiel das Leben und man musste anfangen, irgendwie für sein Überleben zu strampeln.

Das Interessante dabei ist jedoch: die Generation unserer Kinder ist in genau der selben Situation! Und das, und jenes, manche haben einen Hochschulabschluss, manche zwei, und manche haben sogar ganze drei; viele sind Postgraduenten irgendwelcher Wissenschaften, aber im Grunde sind sie – niemand. Man kann das ganze Feld absuchen und nichts finden; sie sind das, was früher „Person ohne konkrete Beschäftigung“ genannt wurde.

Interessant, dass zwischen Besitzern verschiedenster Diplome und denjenigen, welche diese nicht haben, keine wirklichen Unterschiede beobachtet werden können.

Das ist nicht nur bei uns so; man findet ein sehr ähnliches Bild in den Ländern, bei denen wir uns daran gewöhnt haben, ein Vorbild an ihnen zu nehmen. Meine ehemaligen italienischen Zimmergenossinnen und, was schlimmer ist, ihre Kinder – sie alle befinden sich in der selben Zwickmühle. Immer nur irgendwelche Fetzen an Arbeit: befristet, unbestimmt, unverständlich, perspektivlos.

Dabei ist alles verständlich: im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts verschwand und verschwindet bis heute der Begriff des Berufs. Jemand verlor seinen Beruf, jemand hat einfach keinen, und letztendlich ist niemand ein Professioneller, sondern ein… was? Na so ein, irgend so ein… Für dieses „so wie ein…“ wurde sogar ein Wort erfunden: das „Prekariat“. Das Wort setzt sich aus zwei zusammen: „proletariat“ und „precarious“. „Precarious“ ist Englisch und bedeutet „unzuverlässig“, „zwielichtig“, „gefährlich“, „waghalsig“, „wankelmütig“, „labil“, „unregelmäßig“, „instabil“ und „unbeständig“.

Solche Arbeiterchen haben wir also, „unverständliche“ und „unzuverlässige“. In der Art solcher, über welche mein Sohn als Besitzer eines kleinen Baugeschäfts oft erzählt. Zuerst bitten sie dich unter Tränen um Geld für die Fahrt zur Arbeit, und sobald sie es haben, verschwinden sie oftmals, manchmal auch nachdem sie irgendwas von den Elektrogeräten mitgehen ließen. Das alles erzählt mein Sohn in humorvollsten Tönen; allerdings ist dieses Thema ein ernstes und keinesfalls lustig.

Soziologen fingen schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts an, das Wort „Prekariat“ für die unqualifiziertesten Werktätigen zu benutzen, deren soziale Position wechselhaft und unklar war, etwas in der Art von Saisonarbeitern. Mit den Jahren sind die Instabilität und die Verschwommenheit vorangekrochen und haben heute fast den gesamten Arbeitsmarkt ergriffen.

Über diese Erscheinung wird heute viel gesprochen. Es gibt sogar ein fast schon klassisches Werk von Guy Standing: „Das Prekariat – die neue, gefährliche Klasse“, 2011 veröffentlicht („The Precariat: The New Dangerous Class“).

„Es ist an der Zeit, das Problem des Weltprekariats zu erkennen, und das so schnell es geht. In ihm reift die Unzufriedenheit und Unruhe“, schreibt der Autor.
„Neben den fehlenden Sicherheiten bei Arbeit und beim gesellschaftlichen Einkommen fehlt dem Prekariat die Selbstidentifizierung auf Basis einer Arbeitstätigkeit. Beim Antreten eines Dienstes nehmen diese Menschen eine Funktion ein, welche perspektivlos im Sinne des Karrierewachstums, ohne Tradition eines sozialen Gedächtnisses ist; sie gibt keine Möglichkeit, seine Angehörigkeit zu einer Arbeitsgemeinschaft mit bereits geronnenen Praktiken, sowie ethischen und verhaltensorientierten Normen zu verspüren; sie gibt kein Gefühl eines gegenseitigen Zusammenhalts und der Kameradschaft.“

„In den 1960er Jahren“, schreibt Standing, „konnte der typische Arbeiter, welcher den Arbeitsmarkt in einem industriell entwickelten Land betrat, erwarten, dass er bis zum Renteneintrittsalter seinen Arbeitsgeber vielleicht vier mal wechseln wird. Unter den Bedingungen der genannten Zeit machte es Sinn, sich mit der Firma, in welcher man tätig war, einzulassen. Heutzutage wäre das eine große Dummheit. Heute kann der typische Arbeiter, höchstwahrscheinlich eine Frau, darauf zählen, dass er neun Arbeitgeber wechseln wird, bevor er ein Alter von 30 Jahren erreicht. So groß sind die Ausmaße der Veränderungen, welche die Flexibilität der Menge mit sich trägt.“ Die Flexibilität der Menge bedeutet: sinkt die Arbeitsmenge ein bisschen, kündige ich Angestellte; steigt diese ein wenig, stelle ich ein. Die Wahrheit ist, man kann keinen anständigen Arbeiter einfach mal so einstellen, dafür aber eher einen billigen und wütenden.

Nach den Berechnungen des Autors gehört ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in den sogenannten zivilisierten Ländern zum Prekariat. Marine Le Pen beschreibt in ihrem vor kurzem veröffentlichten Büchlein „Im Namen Frankreichs“, dass ein Drittel der in Frankreich getätigten Arbeit von den Händen eben solcher Arbeitstätigen ausgeführt wird, welche dauerhaft als Vogelfreie leben müssen. Und das sind noch nicht mal besonders viele: in Südkorea, so besagen manche Daten, beträgt der Anteil solcher Menschen 50%.

Das Prekariat leidet an etwas, was Standing die „Vier A’s“ nennt. Das erste „A“ – „anxiety“ – ist die Unruhe aufgrund der Unentschlossenheit. Das zweite „A“ – „alienation“ – das Entfremdungsgefühl wegen der Notwendigkeit, sich nicht mit dem zu beschäftigen, was man möchte. Das dritte „A“ – „anomie“ – die Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis wegen des Zerreissens von sozialen Kontakten. Das vierte „A“ – „anger“ – die Wut als Resultat der vorherigen „A’s“.

Wer sind wir? Wozu sind wir?

Die Agitprop-Künstler sagen dazu zuallererst: so muss alles sein. Der Beruf – das ist das vergangene Jahrhundert. Sogar den Kindern wird heute in den Schulen beigebracht: du musst dazu bereit sein, dass du im Leben eine Vielzahl an Berufen haben wirst. Heutzutage wird erwartet, dass man mobil, dynamisch ist; dass man sich mutig den Herausforderungen der Zeit stellt. Nur früher wurden die Sklaven des Systems angepriesen, welche nur zwei Einträge in ihren Arbeitsbüchlein besaßen: „Angenommen durch den Lehrer so-und-so der Schule № dies-und-das (angenommen durch den Schlösser ___ , Briefkasten-№ ___ )“, sowie „gekündigt aufgrund des Rentenantritts“. Heute sind es ganz andere Zeiten! Heute strebt des Mensch andauernd zum Besseren, konkurriert, fügt sich den Anforderungen des Marktes. Kaum trittst du deinen Arbeitplatz an, beginne sofort mit dem Verschicken von Resumés an alle Enden mit der Suche einer neuen Stelle! Für das Schreiben von Resumés gibt es sogar besondere Kurse; das stellt leider auch die einzige professionelle Fertigkeit dar, welche vom Großteil der modernen Arbeitnehmer beherrscht wird. Was denn für eine Loyalität des Betriebes? Das ist das letzte Jahrhundert, eine Rückständigkeit. Heute muss der Mensch sich andauernd auf der Suche nach Arbeit befinden: that’s the market, baby! Ich erinnere mich, wie während der 90er Jahre solch eine Weisheit weit verbreitet war, die als amerikanisch und folglich unantastbar galt: an einem einzigen Arbeitsplatz unter einem Profil und länger als vier Jahre arbeiten darf man nicht. Ansonsten bist du ein Verlierer. Nach vier Jahren hast du schon alles bekommen, was du von dieser Stelle hättest bekommen können. Aber vier Jahre – das ist noch gar nichts. Die Mehrzahl der Arbeitenden, welche in unsere Firma angeworben werden, haben davor an anderen Stelle für ein halbes bis zu anderthalb Jahre gearbeitet. (Bei uns verbleiben sie aber komischerweise länger, was nicht sehr typisch ist.)

„Die Propagierung der Flexibilität lehrt die Menschen, dass Unveränderlichkeit der Feind der Flexibilität ist. Die Erfahrung der Aufklärung sagt uns darüber, dass der Mensch sein Schicksal selbst bestimmen muss, und kein Herrgott oder die Naturmächte. Dem Prekariat wird erzählt, dass er den Anforderungen des Marktes entsprechen und sich andauernd anpassen muss.

Die Verschiebung des Schwerpunkts in Richtung der Zeitarbeit ist ein Symptom des globalen Kapitalismus“, schreibt Standing.

Der Markt als leitendes Weltbild stellt ein gewisses Absolut dar, welches man nicht diskutieren, sondern sich nur bemühen sollte, ihm zu entsprechen. Wer ihm entspricht, für ihn gibt es Respekt und Verehrung; ehrlich gesagt, nur in Worten. Die moderne Welt hat sich überhaupt darauf eingestellt, seine Probleme nur mündlich zu lösen. Man konnte die Migranten nicht integrieren, also erklärte man den Multikulturalismus. Man konnte die Probleme der Schwarzen nicht lösen, benannte sie also in Afroamerikaner um. Alles, was ist, wird als normal und sogar geschätzt dargestellt. Wenn du nicht den neuen Trends entsprichst, bist du ein Loser. Und das Losertum soll versteckt werden, wie eine anrüchige Krankheit.

In der neuen Welt werden alle Probleme mündlich gelöst, durch das Umbenennen unangenehmer Erscheinungen in angenehme oder in wenigstens neutrale.

Was dafür für Begriffe von der globalen Marktwirtschaft geschaffen wurden! Der winzige Händler, welcher aus Hoffnungslosigkeit seinen Stand zwischen den Türen der Markthalle platziert, wird Unternehmer genannt. Den Eintreiber von Lieferscheinen im Lager nennt man einen Manager, wenn nicht sogar einen Senior-Manager. Den intelligenten Schieber, welcher mit Werbeanzeigen zusammen mit Übersetzungen von sonst was über die Runden kommt – einen Freelancer. Viele Beschäftigungen, welche zu früheren Zeiten Teilzeitarbeit während der Freizeit darstellten, haben sich in die einzigen und höchst unsicheren Beschäftigungen von Menschen verwandelt. Zum Beispiel verdienten früher manche Lehrkräfte mit Hausunterricht dazu, aber trotzdem war ihr Hauptwerk das Unterrichten an Schulen und Hochschulen, mit was sie ihre professionelle und soziale Identität verbanden. Heute ist alles anders. Heute hat sich eine Art „Teufelskreis“ etabliert: eine junge Frau büffelt bei einem Nachhilfelehrer Englisch, immatrikuliert triumphierend in irgendeine linguistische Universität, lernt dort fünf Jahre dasselbe Englisch, um dann ebenfalls eine Hauslehrerin zu werden, da ihr keine angemessene Arbeitsstelle blüht.

Das Prekariat hat kein wahrnehmbares Selbstbewusstsein oder wenigstens ein stabiles Selbstgefühl. Wer bin ich? Was ist mein Platz im Leben? Was habe ich für einen Wert und habe ich überhaupt einen Wert, oder bin ich nur Staub, verweht vom Wind? Vielleicht bin ich aber auch ein moderner, ambitionierter Profi von internationalem Niveau: ich habe schließlich diesen Übersetzungsauftrag aus Kanada bekommen… All diese unangenehmen Fragen bleiben in den meisten Fällen unbeantwortet. Oder eher, die Herren des Diskurses geben darauf beruhigende Antworten, welche den Schmerz der Sinnlosigkeit leicht unterdrücken; wie eine Analgin-Tablette gegen Zahnschmerzen.

Und wem diese Tabletten nicht helfen, dem wird ein Wickel helfen.

Das Brand [engl. „bekannte Marke“] – ein Wickel für die Selbsteinschätzung

Ein Brand ist eine relativ langlebige und gut wiedererkennbare Marke einer Ware; aber nicht nur. Das Brand ist ein Schlüsselwort unserer Epoche; heute spricht man von der Schaffung eines persönlichen Brands, also eines Brands aus sich selbst. Es werden Seminare „Die Formierung eines persönlichen Brands“ abgehalten (ich habe, ehrlich gesagt, noch nie an so einem Seminar teilgenommen). Logisch: der Mensch ist selbst schon lange zu einer Ware geworden, warum sollte er dann nicht auch eine Brand-Ware werden? Der moderne Konsument strebt schließlich danach, nur exklusive Markenartikel zu erwerben.

Eine Brand-Ware kostet um ein Vielfaches mehr als ein No-Name-Artikel mit genau den selben Verbrauchs- (und allen anderen) Eigenschaften. In den meisten Fällen werden sie sowieso in ein und der selben Fabrik produziert. Und ihre Komponenten werden erst recht und ohne Zweifel aus ein und dem selben „Fass gegossen“. Nichtsdestotrotz kostet eine Markenware deutlich mehr. Glauben Sie das einer Händlerin mit Erfahrung.

Selbstverständlich verneinen Händler die Gleichheit von Marken- und Nichtmarkenartikeln, allerdings weniger beharrlich, als viel mehr rituell, aus Gewohnheit. Heutzutage finden generell Gespräche viel weniger über die realen physischen Eigenschaften der Waren statt. Wen interessiert schon, ob die Jacke warm hält, wenn so eine Jacke von Dima Bilan [AdÜ.: russischer Popstar] getragen wird? Über die physischen Eigenschaften von Artikeln diskutiert man nur noch im niedersten Bodensatz: darüber spricht man vielleicht noch mit Omas auf Flohmärkten oder in Fußgängerunterleitungen [AdÜ.: in Russland Ort von kleinen, illegalen Marktständen]; die glamouröse Öffentlichkeit braucht jedoch Marken und Prestige.

Heute gibt es immer weniger Werbung, welche sich auf reale Eigenschaften des beworbenen Gegenstands stützt („süß“, „lecker“, „warm“, „schnell“); das ist alles aus dem letzten Jahrhundert. Heute spricht man vom „richtigen Bier“, von der Zukunft, welche „nur von dir abhängt“; also über virtuell-prestigehaltige Gegenstände. Wer mag es schon, das falsche zu trinken oder seine Zukunft nicht im Griff zu haben? Eben! Somit müssen Sie kaufen.

Gerade deshalb ziehen es die Hersteller vor, viel mehr ins Brand zu investieren, als in die eigentliche Ware. Es entsteht so ein Gefühl, dass die Ware selbst sich immer mehr in eine Beigabe zum Brand entwickelt. Erfolgreiche Unternehmer sind solche, welche es geschafft haben, das folgende Schema zu verwirklichen: ein Brand populär machen, und danach dieses verkaufen. Und danach faulenzen. Und das ist auch logisch; eine populäre, starke Marke kostet heutzutage deutlich mehr als die Fabrik, welche die entsprechenden Waren produziert. Die Fabrik, welche irgendwann mal Pfannen und Sonstiges unter der Marke „Teflon“ produzierte, ist schon lange geschlossen, die Firma selbst ist, so scheint es, Bankrott gegangen. Das Brand wurde jedoch verkauft und setzt fort, seinen Besitzern Geld einzubringen.

In heutigen Tagen wird gewissermaßen alles gebrandet; Dinge eingeschlossen, welche an sich eine reine Funktion repräsentieren, wie etwa Wischmops, Toilettenschüsseln oder Kochtöpfe. Nichtsdestotrotz gibt es in diesen Bereichen Favoriten und Außenseiter des Prestiges. Eines Tages habe ich eine glamouröse Dame kennengelernt und sie zu Hause besucht. ALLE Gegenstände im Bad und in der Küche waren bei ihr teuerste Marken. Als sie bemerkte, dass mein Blick an etwas haften geblieben ist, kommentierte sie: „Ich bemühe mich, damit alles, was meine Hände berühren, nur von den besten Marken stammt.“

Der moderne Mensch bezahlt nicht, wenn er kauft, für die Eigenschaften der Ware, sondern für das Plus an Selbstachtung, an Selbstschätzung. Zu gewissen Teilen war das auch früher so, aber heute ist diese Erscheinung angewachsen und global führend.

Warum brauchen die Menschen gerade heute so dringlich Brands?

Es ist ein Surrogat des Respekts. Und Respekt wird vom Menschen sehr benötigt, er braucht ein Gefühl irgendeiner Bedeutung seiner selbst, einen Wert; ohne diesen ist es unerträglich zu leben. Nicht umsonst klären Säufer die ewige Frage: „Respektierst du mich?“ Was der Nüchterne im Sinn hat, hat der Betrunkene auf der Zunge: Respekt braucht jeder, aber während der Nüchternheit redet man nicht darüber.

Wofür sollte man ihn respektieren, diesen unbekannten Bürohocker, dieses Staubkorn im Wind? Und wer sollte ihn respektieren? Er ist doch für alle völlig unbekannt; er lebt in einem kleinen Käfig eines riesigen Wohnblocks, dabei kennt er weder seine Nachbarn, noch die Bewohner seiner Straße, niemanden. Er gehört keiner Wohngemeinschaft an – das ist ein sehr, sehr bekannter Fakt. An seinem Wohnort übernachtet er nur: nicht umsonst nennt man die Viertel von riesigen Wohnblocks „verschlafen“. Er hetzt zur Arbeit, dabei den Verkehrsmitteln einen Teil seiner Kräfte abgebend, und die Arbeit verleiht nur selten einen Hauch an Bewunderung. Für viele, für die überwältigende Mehrheit ist Arbeit etwas zufälliges und zeitlich begrenztes. Er hat auch meistens keine richtige Profession, viel mehr irgendein „finanz-juristisches“ Diplom. Du saßt ein bisschen hier rum, geh jetzt dort hin… Aber man möchte doch respektiert werden, irgendeinem Kreis angehören, einer Gemeinschaft, allerdings nicht irgendeinem Kreis, sondern einem von Geschätzten und Bedeutungsvollen. Damit man respektiert wird…

Und hier kommt das Brand zur Hilfe. Es kommt auf sanften Pfoten, mit dem Aussehen eines Freundes. Wie Alkohol, wie Fluoxetin [AdÜ.: ein Antidepressivum]. „Kaufe X“, flüstert das Brand, „und du wirst respektiert werden“. Und der Mensch kauft. Zuerst fängt selbstverständlich unser Held an, sich selbst mehr zu respektieren, da er den anderen völlig egal ist. „Trotzdem“, flüstert das Brand, „wirst du zum Kreis der Auserwählten gehören, welche ebenfalls X kaufen. Na gut, vielleicht nicht zum Kreis der Auserwählten, aber wenigstens nicht zu dem der Zurückgebliebenen; den Unansehlichen, dem Niedersatz, den Hinterwäldlern. Du bist nicht mehr allein, du gehörst zu uns. Du bist mit denen, die X haben.“

Das gibt Hoffnung. Hoffnung auf was? Na, dass der junge Kerl, welcher X besitzt, in seinem Leben nicht verloren geht. Letztendlich ist alles Coca-Cola. Und Hoffnung, das wissen Sie selbst, kostet viel.

Das alles ist in seiner Natur eine krankhafte Anpassungsreaktion an das Grauen vor einem leeren Leben – sinnlos, ohne Ziel, ohne Selbsterkenntnis.

Deshalb braucht der Mensch das Brand.

Das Prekariat: eine andere Perspektive darauf

Guy Standing, wie auch die Mehrheit der Autoren, betrachtet das Prekariat aus einer, wie soll man sagen, umsichtigen Position: vorausschauend betrachtet wird das Prekariat seiner Meinung nach rebellieren und die bestehende Ordnung in Stücke reißen. Dementsprechend muss die Konzeption eines bedingungslosen Mindesteinkommens realisiert werden, also eine vom Staat garantierte monetäre Beköstigung eines jeden Bürgers. Einfacher gesagt, die Verwandlung der unklaren Fälle der Zeitarbeiter, aber letztendlich dennoch Arbeiter, in vollkommen legale Faulenzer; das direkte Analogon der römischen Proletarier aus der Epoche des Niedergangs, welchen aus der Staatskasse Brot und Spiele bezahlt wurden.

Man darf so einen Ausgang nicht ausschließen: das marxistische Proletariat hat wortwörtlich nichts zu verlieren; sie wurden vom globalistischen Kuchen ausgeschlossen. Aber im Gegensatz zu diesem Proletariat sind die Menschen des Prekariats uneinig, unsolidarisch; sie verstehen die Geschehnisse nicht und und werden andauernd von nebulösen Hoffnungen geleitet: gleich wird mir etwas gelingen, ich werde irgendwo angestellt, werde reich werden… Und sollte ich keine Arbeit finden, selbst schuld, habe ich mich dem Markt also nicht genug angepasst. Diese Klasse wird also wahrscheinlich noch lange keine „Klasse für sich selbst“ sein, um es mit einem marxistischen Terminusi auszudrücken.

Über das Prekariat wird viel aus dem Sozialmitleidsaspekt geschrieben: wie die armen Tröpfe zu leiden haben. So deutet Le Pen im Rahmen aller möglicher Sozialprobleme darauf hin, dass die „Zahl der kurzbefristeten Arbeitsstellen auf 30 % angewachsen ist“. Übrigens ist das keine wirklich gigantische Zahl: in Südkorea, so schreibt Guy Standing in seinem Büchlein, ist die Hälfte aller Beschäftigten in zeitweiligen, „irregulären“ Arbeitsstellen gebunden.

Das Phänomen des Prekariats hat aber auch einen anderen, wichtigen Aspekt. Sie, diese Unglücklichen, sind ein mächtiges Werkzeug zur Degradierung aller Lebensaspekte. Sie sind linksärmige Trottel; nicht aus eigener Schuld, aber ein Faktum bleibt ein Faktum: sie sind Trottel. Dabei füllen diese „professionellen“ Trottel sämtliche Lebensbereiche aus. Der Anspruch der Arbeitsausführung in beliebigen Bereichen sinkt immer mehr, er rollt förmlich bergab.

Heute einen gebildeten Spezialisten und kompetenten Arbeiter zu finden ist ein unglaubliches Glück. Egal mit wem man redet, von der Hausfrau bis zum Unternehmer, alle atmen auf und breiten ihre Hände aus: es ist unmöglich, einen kompetenten Menschen zu finden. Wenn du einen triffst – Glück gehabt; aber allen ist so ein Glück nicht beschieden. Kompetent bei was? Völlig egal: vom Tapezieren bis zum Lehren von Mathematik in der Schule. Der Schuldirektor meiner Tochter ist besorgt: mit keinen Kräften der Welt ist es möglich, einen gekonnten Pädagogen aufzufinden. Dabei sind die Löhne für Lehrer in Moskau recht anständig; das Problem liegt jedoch nicht im Lohn.

Ein Angestellter der Weltraumbranche gab vor kurzem zu: es ist nicht klar, was passieren soll, wenn die Alten sterben, welche noch etwas konnten. Es geht hier nicht um Geld; die Sache ist die, dass der Mensch auf seine Arbeit eingestellt sein muss, und nicht auf das Totschlagen von Zeit am Arbeitsplatz, bis man etwas Besseres findet. Ein Mensch mit bescheidenen Fähigkeiten und einer sogar vernachlässigbaren Vorbildung kann vieles erlernen, wenn er zu einem Resultat strebt und an sein Werk glaubt. Aber um etwas zu erlernen muss man in diese Sache einen Teil seiner Lebenszeit investieren; anders geht es nicht. Es existiert die Vorstellung, dass einen Menschen 10.000 Arbeitsstunden zum Spezialisten machen. Rechnen Sie erst gar nicht nach: das sind fünf Jahre Teilzeitarbeit. Wer kann schon damit angeben? Sogar wenn der Mensch fünf Jahre an einem Arbeitsplatz verbringt (was nicht oft passiert), dabei nach links und rechts Resumés verschickend, wird er dabei gewissenhaft Mühe in seine Arbeit investieren? Höchstwahrscheinlich nicht. So trifft man das auch in der Realität an.

Überhaupt ist die verbreitete Vorstellung „zahle mehr, und der Mensch wird gut arbeiten“ falsch. Der Mensch arbeitet genau so gut, wie er kann. Wenn er nichts kann, wird man auch nichts erreichen, egal wie viel man ihm zahlt.

Von hier aus wird bis zur Gänze klar, warum Bildungsreformen immer solch ein bleiches, und oft auch direkt lachhaftes Aussehen besitzen. Wenn haben wir vor vorzubereiten? Zu welchem Zweck? Ah, einen gebildeten Menschen? Für was – für weltmännisches „Smalltalk“? Würden wir Volkswirtschaftler vorbereiten, könnte man auch klären und entscheiden, wer was lernen soll; so wie das jetzt läuft, ist das unmöglich. Schon aus Prinzip. Es hat keinen Sinn, die Aufgabe zu lösen, wie man gehen soll, wenn man nicht weiß „wohin“?

Ich kann noch mehr sagen. Selbst wenn unsere Schulen, die Hoch- und Mittelschulen, aus unerfindlichen Gründen anfangen würden, hervorragend, wunderbar, besser als alle anderen in der Welt zu unterrichten, würden unsere Schüler trotzdem nichts lernen. Buchstäblich nach dem alten Studentenspruch: „Man gab ihm gute Bildung, aber er nahm sie nicht an.“ Sie werden sie nicht annehmen! Denn sie immatrikulieren und lernen letztendlich für Nichts. Sie lernen einfach so: um ihre glückliche Kindheit zu verlängern, weil die Eltern das so wollten, weil alle es tun, weil man ansonsten zum Wehrdienst abgeholt wird. Aber nicht, um etwas zu erlernen und ES dann zu tun. Sie sehen, wie alles im Leben läuft, wie ihre Eltern und Bekannten arbeiten. Wozu noch zusätzlich lernen, wenn niemand dann nach seinem erlernten Beruf arbeitet? Und letztendlich gibt es sie doch nicht, die Spezialisierung; so steht’s schließlich im Diplom geschrieben. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, man trifft Menschen, welche ihr Wissen lieben und schätzen, aber ich schreibe hier über Massenprozesse.

Nun komme ich zur delikatesten Frage: was soll man nun mit all dem tun?

Ich habe bereits geschrieben, dass wir, unser Land, unser Volk, uns am Anfang großer Umbrüche befinden; sie hängen in der Luft. An der Tagesordnung steht der Übergang vom Zerfall zur Schöpfung, zur Schaffung neuer Werte. Kein Aufteilen von Erdöleinkommen mehr, sondern das Entwickeln einer unserem Volk und Land standesgemäßen fortschrittlichen Industrie und Landwirtschaft. Das war gestern, sagen Sie? Heute herrscht die Ökonomie des Wissens? Nun, was soll’s, Wissen ist Wissen. Allerdings schmiert sich das rückständige Volk morgens nicht Wissen aufs Brot; es bemüht sich immer um Butter und Käse. Wissen wird natürlich trotzdem benötigt; dafür, um im Land die Produktion für all das aufzubauen, was das Volk benötigt. Für solch ein großes Land wie unseres ist das eine vollkommen realistische Aufgabe.

Sobald wir von der Zersetzung und dem Flicken von Löchern zu lebendem Garn, zur Erschaffung und Entwicklung übergehen, wird vor uns in voller Größe das Problem des Kaderdefizits aufragen. Was sage ich da „Defizit“ – ein regelrechter Hunger. Es wird ein sehr, sehr ernstes Problem sein. Dass Kader alles entscheiden ist eine absolute Wahrheit, welche jeder versteht, der sich heute mit einer beliebigen, praktischen Sache beschäftigt. Und jeder, der an eine Sache rangeht, versteht sofort, in was für einer Kaderwüste er sich befindet. Tja… da müssen wir irgendwie raus. Ich werde ein paar wichtige Wege vorzeichnen:

* Mobilisierungswirtschaft: der Staat nimmt sich der beruflichen Vorbereitung aller Gesellschaftsschichten an. Man muss dieses Thema als wichtigste gemeinstaatliche Sache betrachten. Vorbereitet werden müssen Berufe, die man wirklich braucht, und keine Philologen-Politologen. Neun von zehn der „humanitären Spezialisierungen“ müssen eingestellt oder in den Status von Volksuniversitäten für Kultur überführt werden.

* Die Ausbildung verläuft streng auf Staatskosten mit Auszahlen von Stipendien, mit denen man seine Lebenskosten decken kann. Unbedingte Vermittlung nach dem Studium. Es wäre gut, wenn der Mensch beim Einschreiben (ungefähr) wüsste, wohin man ihn schicken wird. Für viele ist die Garantie einer Arbeitsstelle eine große Freude und Erleichterung. Für wie lange muss der Mensch an der Arbeitsstelle nach der Vermittlung verbleiben? Ich finde, nicht weniger als fünf Jahre: in eben diesen fünf Jahren wird der Mensch zum Spezialisten, schlägt Wurzeln in seinem Beruf. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er dort bleiben wird, wohin man ihn geschickt hat.

Es gilt das Prinzip: je besser du lernst, umso bessere Vermittlungen. Es ist interessant, dass dieses Prinzip der Abgängerverteilung an einer Junkerschule in der Erzählung Kuprins [AdÜ.: russischer Schriftsteller] „Die Junker“ beschrieben wird. Das selbe Prinzip galt auch in den 50er Jahren, als mein Vater das Institut [AdÜ.: die Fachhochschule] beendete. Er war ein Musterschüler, und er war priviligiert, seinen Arbeitsplatz aus der kompletten Liste der Vakanzen auswählen zu dürfen, woraufhin er die Kolomensker Maschinenwerkhalle wählte. Alle Studenten waren nach ihren Leistungen rangiert und wählten ihre Arbeitsplätze nach der Reihe der abfallenden Erfolge im Studium. Ich finde, das ist einfach, praktisch und gerecht. Und man muss sagen, dass die Menschen damals genuin lernten; einfach deshalb, weil sie eine klare Perspektive sahen. Meine Eltern erzählten mir, dass diejenigen, welche sich vor der Vermittlung drückten, es regelrecht mit der Miliz zu tun bekommen konnten. Aber innerhalb unseres Bekanntenkreises gab es solche nicht: die Verteilung wurde als Lebensnorm angesehen – wie denn auch sonst?

Interessant, dass heutzutage mal hier, mal da zaghaft angefangen wird, diese Ordnung herzustellen. Ein Freund meiner Tocher, ebenfalls ein Abgänger einer Hochschule, genau wie sie, in Nischni Tagil lebend, hat vor, sich ins pädagogische Insitut einzuschreiben. Die örtliche Verwaltung findet, dass in den Schulen nicht genug Männer vorhanden sind und stimuliert die Immatrikulation von Jungen in pädagogische Studiengänge. Ich kenne nicht alle Bedingungen, weiß aber, dass die Teilnehmer danach fünf Jahre dort abarbeiten müssen, wohin sie geschickt werden. Das alles sind aber nur örtliche Initiativen. Es muss aber zur Norm werden.

Es ist überhaupt an der Zeit, dass das Verreisen in die Ferne durch eine Vermittlung zur Lebensnorm wird; es muss propagandiert, anerzogen, romantisiert, und natürlich auch materiell stimuliert werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die heutige Generation der jungen Menschen dies mit Enthusiasmus aufnehmen würden. Wir müssen unser Land erschließen, und uns nicht zu ein paar Millionenstädten komprimieren. Offensichtlich, dass man für solche Vorhaben einen Volkswirtschaftsplan braucht. Ich erinnere daran, was ein Plan ist: es sind Aufgaben, Fristen, Ressourcen, Verantwortung, der Zusammenhang mit anderen Plänen. Ein Plan hat nichts mit nationalen Programmen, Straßenkarten oder ähnliches zu tun – das alles ist ein anderes Genre.

* Der Hauptmasse einen mittleren, spezialisierten Schulabschluss.

Wenn heute die Aufgabe zu sein scheint, die Jugend so lange wie möglich mit einem Studium zu beschäftigen, damit sie keinen Unsinn macht und mit irgendwas beschäftigt ist, so wird beim Übergang zur Schöpferwirtschaft im Gegenteil der Beginn der Berufslaufbahn ungefähr schon mit 20, und nicht erst mit 23 Jahren benötigt. Das ist durchaus zu bewerkstelligen, wenn die Menschen in ihrer Mehrheit einen spezialisierten, mittleren Schulabschluss erhalten werden. Was das heißt, habe ich schon oft geschrieben. Einen Hochschulabschluss müssen nur ungefähr 10 Prozent erhalten, aber es muss in diesem Fall wirklich hohe Bildung sein, ausgerichtet auf die Schaffung von neuem Wissen. Alles, was die Verwendung von bereits erworbenen Wissen betrifft, liegt in der Kompetenz der spezialisierten mittleren Bildung. Solche Arbeit gibt es in der Volkswirtschaft immer am meisten.

Es wäre vorteilhaft, wenn man professionelle „Dynastien“ fördern und unterstützen würde; damit würden Kinder die Berufe ihrer Eltern übernehmen und ihr Werk fortführen. Das optimiert die Qualität der Arbeitsvorbereitung enorm. Indem es in einer Atmosphäre eines bestimmten Berufs aufwächst, nimmt das Kind schon von Kindheit an vieles auf, was andere erst viel später mithilfe von Arbeitserfahrung, oder sogar niemals verstehen. Nicht umsonst sagt man, ein guter Arzt ist ein Arzt aus dritter Generation; ähnlich ist es auch bei militärischen und diplomatischen Berufen. Diese Berufe als Neuling zu durchdringen ist nicht sehr einfach.

Nicht umsonst wurden im Mittelalter, und auch später, Berufe vererbt. Geschlossene Berufsgilden, Werkstätten, die Abwesenheit von Konkurrenz half bei der Ausarbeitung von Qualitätsarbeiten, eben dieses Können, welches uns beim Betrachten von antiken Stücken entzückt. Unser Volk hatte diese Erfahrung nie, da die Qualität unserer Arbeit immer niedriger war; unsere unfreiwillig gehetzte, zusammengeknüllte Industrialisierung hat nicht den Massentyp eines gekonnten Arbeiters und Meisters geschaffen (obwohl es sie natürlich gab). Unsere sowjetische Führung verstand dies: von hier stammt auch diese „Fünfjahresplan-Qualität“; sie verstand zwar alles, sorgte sich aber nicht um ein besseres Resultat, und danach ging eh alles den Bach runter. Nun müssen wir nicht nur wieder von Null, sondern von einem großen Minus aus anfangen.

Zurück in die Zukunft?

Ich habe nicht nur einmal geschrieben, dass das Lebenssystem, welches uns beim Verlassen der heutigen Smuta [AdÜ.: „Zeit der Wirren“] und überhaupt beim Verlassen des Kapitalismus erwartet, höchstwahrscheinlich gleichzeitig dem Mittelalter und dem sowjetischen Sozialismus in seinen Hauptaugenmerken ähneln wird. Das Mittelalter zeichnet sein ständischer Gesellschaftsbau aus. Irgendwann erwuchs das Ständesystem aus praktischer Notwendigkeit, als Mittel zur Arbeitsaufteilung. Indem sich die Menschen Aufgaben einer konkreten Art widmeten, erlangten sie in diesen Bereichen Virtuosität. Es dünkt mir, dass so etwas ähnliches auch heute in irgendeiner Form nützlich wäre. Falls wir unser Land aufbauen und einen Schritt nach vorn machen wollen, brauchen wir dringend eine gewisse „Kaderfestigung“ – eine geografische und soziale. Damit das Volk im Ganzen geschickt und produktiv wird, darf es nicht sein, dass die Leute einfach so ohne Hindernisse durchs Leben schweben: heute mache ich dies, morgen das, aber letztendlich – nichts. Natürlich, es gab immer talentierte Menschen, welche die Rahmen ihres Standes, ihrer Klasse und sogar ihres vorbestimmten Schicksals sprengten; für den durchschnittlichen Menschen als absoluten Mehrheitsfall stellt es jedoch eine große Erleichterung dar, nichts ausdenken zu müssen, sondern einfach der vorgezeichneten Linie zu folgen. Für das Volk stellt das ebefalls einen großen Nutzen dar.

Interessanterweise schrieb 1907 der damals bekannte Publizist Michail Menschikow über genau das selbe. Dabei schrieb er unter dem Einfluss von Revolutionseindrücken, seine Gedanken verlassen jedoch den Rahmen der direkten Bösartigkeit des Alltags und richten sich, so scheint mir, an die Zukunft. Ich sage dazu nur so viel: es ist es wert.

„In den Mittelaltern organisierte sich die europäische Gesellschaft organisch, wie ein lebendiger Körper, auf werktätige Weise. Die Gesellschaft war ein Ständesystem, aber die Stände waren keine leeren Titel wie heute, komplett sinnlos, sondern lebendige und standfeste Erscheinungen. Die Stände waren werktätige Professionen, Gilden einer durchaus realen, von allen gebrauchten Arbeit. Die Aristokratie war das Organ der Volksverteidigung und der Verwaltung. Es führte real Krieg. Für den Krieg geboren, starb es auch meistens im Krieg. Der Klerus kontrollierte in der Tat den Volksgeist; der Beweis dazu ist die tiefe Religiosität der damaligen Zeit und der Respekt vor den Heiligen. Die Kaufmänner handelten und taten nichts weiteres; Handwerker tätigten ihr Handwerk, Landwirte ihre Landwirtschaft. Wie ein lebendiger Körper war die Gesellschaft streng auf Organe und Gewebe aufgegliedert; bei aller Unwissenheit und Armut, welche von anderen Gründen abhingen, ermöglichte diese Ordnung das Erblühen einer wundersamen Zivilisation, deren Zerfall wir nun miterleben.

Der Niedergang des Gesellschaftsaufbaus begann vor einer langen Zeit. Vor mehr als hundert Jahren vor der Revolution verwandelten sich die Ritter und Richter in Hofadel; ihre tragische Berufung wurde durch profane Ausschweifungen und Müßiggang ersetzt. Der Klerus verlor seinen Glauben an Gott. Die mittleren Stände, die ihre Arbeit fortsetzten, sonderten eine arbeitslose Gilde von Sophisten ab, welche mit Voltaire und Rousseau als Köpfe die heiligsten Schreine der Gesellschaft anzündeten. Durch die Ablehnung von Arbeit durch solch wichtige Organe, durch die Perversion der Ständefunktionen führte das alles zur Erschöpfung der Schultern der Nation, den Bauern. Das hungrige Gewebe hat die atrophischen Organe aufgesaugt – das ist der eigentliche Sinn der Revolution. Das Volk hat die unnützen Beigaben in sich aufgenommen und versucht nun, diese zu verdauen, um schließlich neue zu schaffen. Passiert nicht das selbe nun bei uns?

Was Russland jetzt retten könnte, ist nicht die Rückkehr zur „alten Ordnung“, welche wir kennen, sondern zur alten Ordnung, welche wir nicht kennen, welche vor langer Zeit existierte. Russland könnte durch einen Gesellschaftsaufbau gerettet werden, welcher sich nach dem Arbeitstypus orientiert. Man muss der Gesellschaft den organischen Aufbau wiedergeben, welchen wir heute verloren haben. Die Arbeitsregierung muss andauernd erneuert und durch ein Arbeitsparlament reguliert werden, also durch eine Versammlung von Arbeitsständevertretern des ganzen Landes. Die unnützen, heutigen Stände, falsch und sinnlos, müssen durch echte Stände, durch berufliche Professionen ersetzt werden; diese Professionen müssen, wie bei Organen und lebendem Gewebe eines Körpers, miteinander verschränkt sein. Die gesamte Bevölkerung muss sich auf die Arbeitsschichten verteilen; alle Berufszweige müssen dabei so unabhängig sein, wie es die Natur eines jeden Berufs erfordert. Anfangen muss man hier mit dem wichtigsten Standbein der Revolution – mit der ständelosen Schule.“

Man muss nicht die Gedanken Menschikows übertrieben wortwörtlich verstehen, wie eine Instruktion. Eine große Wahrheit beinhalten seine Gedankengänge dennoch.

Charles de Gaulle sagte einst: “Stalin ist nicht in der Vergangenheit verblieben – er hat sich in der Zukunft aufgelöst!“ Dasselbe gilt, so scheint mir, auch für die Arbeitsgilden: sie sind nicht Vergangenheit, sie sind eine Sache der Zukunft. In ihnen liegt der Samen zukünftiger Erfolge unseres Volkes. Es ist die Chance, das Prekariat in Werktätige und wahre Könner zu verwandeln.

(Visited 21 times, 1 visits today)
Das Kind des Niedergangs
2 Stimmen, 5.00 durchschnittliche Bewertung (99% Ergebnis)

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*