Der Westen im Niedergang ist das Thema des französischen Historikers Emmanuel Todd, das er in seinem jüngsten Buch beschreibt. Für die slowenische Ausgabe hat er das Vorwort dazu aktualisiert. Darin setzt er sich mit den aktuellen Entwicklungen auseinander.
«Trumps Perversität entfaltet sich im Nahen Osten, die Kriegstreiberei der NATO in Europa.»
Das stellt der französische Historiker und Soziologe Emmanuel Todd im Vorwort zur slowenischen Ausgabe seines Buches «La Défaite de l’Occident» (Deutsch: «Der Westen im Niedergang») fest. Er hat den Text kürzlich in seinem Blog veröffentlicht und warnt:
«Die Gefahr einer Eskalation aller Konflikte wird immer deutlicher.»
Mit dem Text will er «eine schematische und vorläufige, aber aktuelle Interpretation der Entwicklung der Krise, die wir derzeit erleben», bieten. Es handele sich um das Fazit seines letzten Interviews mit Diane Lagrange für das Onlinenetzwerk Fréquence Populaire, über «Russlands Sieg, die Isolation sowie die Fragmentierung Frankreichs und des Westens».
Weniger als zwei Jahre nach der ersten Veröffentlichung seines Buches in Frankreich im Januar 2024 hätten sich die wichtigsten Vorhersagen darin bewahrheitet, stellt Todd fest:
«Russland hat die Krise militärisch und wirtschaftlich überstanden. Die amerikanische Rüstungsindustrie ist erschöpft. Die europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften stehen kurz vor der Implosion. Die ukrainische Armee ist noch nicht zusammengebrochen, aber die Phase der Desintegration des Westens ist bereits erreicht.»
Er habe die russophobe Politik der Vereinigten Staaten und Europas immer abgelehnt. Aber «als Westler, der sich der liberalen Demokratie verpflichtet fühlt, als Franzose, der in England in der Forschung ausgebildet wurde, als Kind einer Mutter, die während des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling in den Vereinigten Staaten lebte», sei er erschüttert über «die Folgen, die der ohne Intelligenz geführte Krieg gegen Russland für uns Westler hat». Neben diesem Eingeständnis warnt er:
«Wir stehen erst am Anfang der Katastrophe. Ein Wendepunkt naht, jenseits dessen sich die endgültigen Folgen der Niederlage entfalten werden.»
Der «Rest der Welt» (oder Globale Süden oder Globale Mehrheit) zeige inzwischen offen seine Unterstützung für Russland und dessen Präsident Wladimir Putin. Das zeige unter anderem die Entwicklung der BRICS-Staaten, zu denen sich weiterhin neue Länder gesellen. Das Treffen der Shanghai Cooperation Organisation im August 2025 sei mit dem Treffen von Putin mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und Indiens Premierminister Narendra Modi ein Symbol für den entscheidenden Moment des Wandels in der Welt. Dennoch würden die westlichen Medien ein Bild von Russland und Putin vermitteln, das nicht der Realität entspreche.
«Ich befürchte nun, dass unsere Medien unsere Blindheit noch verstärken werden, indem sie sich nicht vorstellen können, dass Russland im Rest der Welt, der seit Jahrhunderten vom Westen wirtschaftlich ausgebeutet und mit Arroganz behandelt wird, wieder an Ansehen gewonnen hat. Die Russen haben es gewagt. Sie haben das Imperium herausgefordert und gewonnen.»
Die Ironie der Geschichte besteht aus Todds Sicht darin, «dass die Russen, ein europäisches und weißes Volk, das eine slawische Sprache spricht, zum militärischen Schutzschild der übrigen Welt geworden sind, weil der Westen sich nach dem Fall des Kommunismus geweigert hat, sie zu integrieren». In seinem neuen Vorwort skizziert er ein Modell für die Verwerfung des Westens.
Er geht dabei auch auf Widersprüchlichkeiten in der Politik von US-Präsident Donald Trump ein. Diese würden nicht aus einer instabilen und zweifellos perversen Persönlichkeit, sondern aus einem unlösbaren Dilemma für die Vereinigten Staaten resultieren. Einerseits wüssten die führenden US-Politiker, sowohl im Pentagon als auch im Weißen Haus, dass der Krieg in der Ukraine verloren ist und dass die Ukraine aufgegeben werden muss.
Der gesunde Menschenverstand veranlasse sie daher, aus dem Krieg aussteigen zu wollen. Andererseits mache ihnen derselbe gesunde Menschenverstand jedoch klar, dass der Rückzug aus der Ukraine «dramatische Folgen für das Imperium haben wird, wie sie der Rückzug aus Vietnam, dem Irak oder Afghanistan nicht hatte».
«Dies ist in der Tat die erste strategische Niederlage der USA auf globaler Ebene, vor dem Hintergrund einer massiven Deindustrialisierung in den Vereinigten Staaten und einer schwierigen Reindustrialisierung.»
Für die USA sei es inzwischen zu spät, mit China noch industriell konkurrieren zu können. Die Entdollarisierung der Weltwirtschaft habe begonnen, stellt Todd fest. Das könnten Trump und seine Berater nicht akzeptieren, «da es das Ende des Imperiums bedeuten würde».
Das Ziel des MAGA-Projekts (Make America Great Again), das eine Rückkehr zum amerikanischen Nationalstaat anstrebe, müsse als Ziel ein «postimperiales Zeitalter» haben. Doch der USA, deren Produktionskapazität an realen Gütern mittlerweile sehr gering sei, sei es unmöglich, das Leben auf Kredit aufzugeben, wie es dies durch die Produktion von Dollar tue.
«Ein solcher imperial-monetärer Rückzug würde einen starken Rückgang des Lebensstandards bedeuten, auch für Trumps populäre Wählerschaft.»
Der erste Haushalt von Trumps zweiter Amtszeit, der «One Big Beautiful Bill Act» (OBBA), bleibe daher trotz der Zollschutzmaßnahmen, die den protektionistischen Traum verkörpern, imperialistisch, schreibt der französische Historiker. Der OBBBA erhöhe die Militärausgaben und das Haushaltsdefizit, was «zwangsläufig Dollarproduktion und ein Handelsdefizit» bedeute.
«Die imperiale Dynamik, oder besser gesagt die imperiale Trägheit, untergräbt weiterhin den Traum von einer Rückkehr zum produktiven Nationalstaat.»
In Europa werde die militärische Niederlage in der Ukraine von den Staats- und Regierungschefs «nach wie vor kaum verstanden», schreibt Todd. Er erinnert daran, dass das Pentagon die militärischen Operationen der ukrainischen Armee geplant und geleitet hat. Deshalb wisse das US-Militär, «obwohl es den Krieg von seinem ukrainischen Stellvertreter führen ließ», dass es von der russischen Verteidigung zerschlagen wurde.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs hätten nur Waffensysteme zur Verfügung gestellt, «und zwar nicht die wichtigsten», fügt der Historiker hinzu. Sie seien sich zwar des Ausmaßes der militärischen Niederlage nicht bewusst, wüssten aber, dass ihre eigenen Volkswirtschaften durch die Sanktionspolitik gelähmt seien, insbesondere durch die Unterbrechung ihrer Versorgung mit billiger russischer Energie.
Die wirtschaftliche Teilung des europäischen Kontinents sei «ein Akt selbstmörderischer Verrücktheit» gewesen. Die Folgen:
«Die deutsche Wirtschaft stagniert. Armut und Ungleichheit nehmen im gesamten Westen zu. Das Vereinigte Königreich steht kurz vor dem Zusammenbruch. Frankreich ist nicht weit davon entfernt. Gesellschaften und politische Systeme befinden sich in einer Sackgasse.»
Doch die negative wirtschaftliche und soziale Dynamik, die den Westen unter Druck setzt, habe es bereits vor dem Krieg in der Ukraine gegeben. Zu den Ursachen zählt Todd, dass der vielgepriesene Freihandel die industrielle Basis untergräbt und die Einwanderung zu einem Identitätssyndrom führt, «insbesondere unter den Arbeiterklassen, denen sichere und angemessen bezahlte Arbeitsplätze vorenthalten werden».
Aus seiner Sicht ist die «negative Dynamik der Fragmentierung kultureller Natur» noch tiefergehender. Als Ursache dafür macht er die Massenhochschulbildung aus, die in Schichten aufgeteilte Gesellschaften schaffe. Die Hochgebildeten, die zwischen 20 bis 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten, würden beginnen, «unter sich zu leben, sich für überlegen zu halten, die Arbeiterklasse zu verachten und manuelle Arbeit und Industrie abzulehnen».
Die Grundschulbildung für alle mit der universellen Alphabetisierung hätte die Demokratie gefördert und eine homogene Gesellschaft mit einem egalitären Unterbewusstsein geschaffen. Die Hochschulbildung habe dagegen «zu Oligarchien und manchmal zu Plutokratien geführt, zu stratifizierten Gesellschaften, die von einem ungleichen Unterbewusstsein durchdrungen sind». Zugleich sei ein «ultimatives Paradoxon» zu beobachten:
«Die Entwicklung der Hochschulbildung führte letztendlich zu einem Rückgang des intellektuellen Niveaus in diesen Oligarchien oder Plutokratien!»
Todd verweist dabei auf sein Buch «The Economic Illusion» (1997) und stellt fest, die westliche Industrie sei in den Rest der Welt und natürlich auch in die ehemaligen Volksdemokratien Osteuropas abgewandert. Letztere seien nach dem Ende der UdSSR zu ihrem «jahrhundertealten Status als von Westeuropa dominierte Peripherie» zurückgekehrt. Unterdessen habe überall in Europa das elitäre Verhalten der Hochgebildeten, der «Elitismus», zu «Populismus» geführt.
Der Krieg habe die Spannungen in Europa noch verschärft, schreibt Todd. Er führe zur Verarmung des Kontinents und entziehe den politischen Kräften ihre Legitimität. Die Entwicklung konservativer Volksbewegungen (von journalistischen Eliten meist als «populistisch», «rechtsextrem» oder «nationalistisch» bezeichnet, beschleunige sich.
Das zeige sich in Großbritannien in Gestalt der «Reform UK», mit der AfD in Deutschland oder mit dem Rassemblement National in Frankreich. Der Historiker stellt fest:
«Ironischerweise stehen die Wirtschaftssanktionen, von denen sich die NATO einen ‹Regimewechsel› in Russland erhoffte, kurz davor, eine Kaskade von ‹Regimewechseln› in Westeuropa auszulösen. Die westlichen herrschenden Klassen werden durch ihre Niederlage delegitimiert, während die autoritäre Demokratie Russlands durch ihren Sieg wieder legitimiert wird, oder besser gesagt, überlegitimiert, da Russlands Rückkehr zur Stabilität unter Putin ihm zunächst unangefochtene Legitimität sicherte.»
Die Entwurzelung des Westens nehme die Form einer «hierarchischen Spaltung» an, schreibt er. Aus seiner Sicht geben die USA die Kontrolle über Russland und auch über China auf. Durch die Blockade Chinas bei den Importen von Samarium, einem für die Militärluftfahrt unverzichtbaren Seltenerdelement, könnten die USA nicht mehr davon träumen, China militärisch zu konfrontieren.
Der Rest der Welt – Indien, Brasilien, die arabische Welt, Afrika – nutze dies aus und entgleite ihnen. Die USA würden sich aber energisch gegen ihre europäischen und ostasiatischen «Verbündeten» wenden, «in einem letzten Versuch der Ausbeutung und, wie man zugeben muss, aus purer Boshaftigkeit». Sie würden Europa bestrafen, um ihrer Demütigung zu entkommen sowie um ihre Schwäche vor der Welt und vor sich selbst zu verbergen.
«Das Imperium verschlingt sich selbst. Das ist die Bedeutung der Zölle und Zwangsinvestitionen, die Trump den Europäern auferlegt, die in einem schrumpfenden Imperium eher zu Kolonialuntertanen als zu Partnern geworden sind. Die Ära der solidarischen liberalen Demokratien ist vorbei.»
Trumpismus sei «weißer populistischer Konservatismus», so Todd, der das geschehen im Westen als Zusammenbruch der inneren Solidarität sieht. Die Wut, die aus der Niederlage resultiere, führe dazu, dass sich jedes Land gegen die schwächeren Länder wendet, um seinen Groll zu ventilieren. Er warnt vor den konkreten Folgen:
«Die Vereinigten Staaten wenden sich gegen Europa und Japan. Frankreich reaktiviert seinen Konflikt mit Algerien, seiner ehemaligen Kolonie. Es besteht kein Zweifel, dass Deutschland, das sich von Scholz bis Merz bereit erklärt hat, den Vereinigten Staaten zu gehorchen, seine Demütigung gegen seine schwächeren europäischen Partner richten wird. Mein eigenes Land, Frankreich, scheint mir am stärksten bedroht zu sein.»
In seinem Buch beschreibt der Historiker den Nihilismus als eines der grundlegenden Konzepte der Niederlage des Westens. Er sei persönlich kein Gläubiger und befürworte keine Rückkehr zur Religion, was es auch für unmöglich hält. Als Historiker stellt er aber fest, «dass das Verschwinden sozialer Werte religiösen Ursprungs zu einer moralischen Krise führt, zu einem Drang, Dinge und Menschen zu zerstören (Krieg) und letztlich zu dem Versuch, die Realität abzuschaffen (zum Beispiel das Transgender-Phänomen für amerikanische Demokraten und die Leugnung der globalen Erwärmung für Republikaner)».
Die Krise bestehe in allen vollständig säkularisierten Ländern, aber sie sei schlimmer in denen, in denen die Religion der Protestantismus oder das Judentum war. Das seien «absolutistische Religionen in ihrer Suche nach dem Transzendenten». Das unterscheide diese Länder von jenen, in denen der Katholizismus vorherrschte, der offener für die Schönheit der Welt und das irdische Leben ist.
«Tatsächlich sehen wir in den Vereinigten Staaten und in Israel die Entwicklung parodistischer Formen traditioneller Religionen, Parodien, die meiner Meinung nach im Wesentlichen nihilistisch sind.»
Diese irrationale Dimension sieht er als «Kern der Niederlage» des Westens. Es handele sich nicht nur um einen «technischen» Machtverlust, sondern auch um eine moralische Erschöpfung, ein Fehlen positiver existenzieller Ziele, das zu Nihilismus führe. Dieser stehe wiederum hinter dem Wunsch der europäischen Staats- und Regierungschefs, «insbesondere an den protestantischen Küsten der Ostsee», den Krieg gegen Russland durch unaufhörliche Provokationen auszuweiten.
Dieser Nihilismus steht auch hinter der US-amerikanischen Destabilisierung des Nahen Ostens, «dem ultimativen Ausdruck der Wut, die aus der Niederlage Amerikas gegen Russland resultiert». Das Regime Netanjahus in Israel handele beim Völkermord in Gaza oder beim Angriff auf den Iran nicht unabhängig, betont Todd.
«Null-Protestantismus und Null-Judentum verbinden sicherlich auf tragische Weise ihre nihilistischen Auswirkungen in diesen Gewaltausbrüchen. Aber im gesamten Nahen Osten sind es die Vereinigten Staaten, die durch Waffenlieferungen und manchmal auch durch direkte Angriffe letztlich für das Chaos verantwortlich sind.»
Die USA würden Israel genauso wie die Ukraine zum Handeln drängen. Als professioneller Historiker, der sich seit einem halben Jahrhundert mit Geopolitik beschäftigt, habe er den Eindruck, «dass Israel, ähnlich wie das NATO-Europa, aufgehört hat, ein unabhängiger Staat zu sein». Und:
«Das Problem des Westens ist in der Tat der programmierte Tod des Nationalstaates.»
Das riesige Imperium zerfalle inmitten von Lärm und Wut und sei bereits polyzentrisch sowie «in seinen Zielen gespalten, schizophren». Aber keiner seiner Teile sei wirklich unabhängig, betont Todd. Trump sei sein derzeitiges «Zentrum» und zugleich «sein bester ideologischer und praktischer Ausdruck». Er verbinde den rationalen Wunsch, sich in seinen unmittelbaren Herrschaftsbereich (Europa und Israel) zurückzuziehen, mit nihilistischen Impulsen, die den Krieg begünstigen.
Diese Tendenzen – Rückzug und Gewalt – kommen auch im Herzen des Imperiums, den USA selbst, zum Ausdruck, wo das Prinzip der hierarchischen Spaltung intern wirke. Der französische Historiker verweist dabei auf die wachsende Zahl von US-Autoren, die das Kommen eines Bürgerkriegs heraufbeschwören.
Eines der interessanten Merkmale der heutigen USA sieht er darin, dass es ihren führenden Kräften zunehmend schwerfalle, zwischen internen und externen Themen zu unterscheiden:
«Die Armee schießt auf Boote, die Venezuela verlassen, bombardiert den Iran, dringt in die Zentren demokratischer Städte in den Vereinigten Staaten ein und unterstützt die israelische Luftwaffe bei einem Angriff auf Katar, wo sich eine riesige amerikanische Basis befindet.»
Jeder Science-Fiction-Leser würde in dieser beunruhigenden Liste die Anfänge eines Abstiegs in die Dystopie erkennen, also eine negative Welt, in der Macht, Fragmentierung, Hierarchie, Gewalt, Armut und Perversität miteinander verflochten seien. Todd empfiehlt seinen Lesern angesichts all dessen:
«Bleiben wir also wir selbst, außerhalb Amerikas. Behalten wir unsere Wahrnehmung von Innen und Außen, unseren Sinn für Verhältnismäßigkeit, unseren Kontakt zur Realität, unsere Vorstellung von dem, was richtig und schön ist. Lassen wir uns nicht von unseren eigenen europäischen Führern, diesen privilegierten Individuen, die sich in der Geschichte verloren haben, verzweifelt darüber, dass sie besiegt wurden, und erschrocken über den Gedanken, eines Tages von ihren Völkern gerichtet zu werden, in einen kopflosen Krieg hineinziehen. Und vor allem, vor allem lasst uns weiterhin über die Bedeutung der Dinge nachdenken.»
Dem kann und muss nichts hinzugefügt werden.
Quelle: Emmanuel Todd: The dislocation of the West: what threatens us – 6. Oktober 2025
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