Das Ende der westlichen Vorherrschaft

von Thierry Meyssan (voltairenet)

Die westlichen Sanktionen gegen Russland, die einseitig von Washington beschlossen wurden, werden als gerechte Strafe für die Aggression gegen die Ukraine dargestellt. Ohne auch über ihre völkerrechtliche Illegalität zu sprechen, kann jeder sehen, dass sie ihr Ziel nicht erreichen. In der Praxis isolieren die USA den Westen in der Hoffnung, ihre Hegemonie über ihre Verbündeten aufrechtzuerhalten.

Für Thukydides war der Ehrgeiz von Sparta und Athen derselbe und konnte sie nur in den Krieg gegeneinander führen. Die russische und die chinesische Führung dagegen stellen sich eine multipolare Welt vor, in der jeder unterschiedliche Ambitionen haben könnte. Nichts würde sie dazu bringen, gegeneinander in den Krieg zu ziehen.

Dieser Artikel folgt auf:

1. „Russland will die USA zwingen, die UN-Charta zu respektieren“, 4. Januar 2022.
2. „Washington setzt den RAND-Plan in Kasachstan fort, dann in Transnistrien“, 11. Januar 2022.
3. „Washington weigert sich, auf Russland und China zu hören“, 18. Januar 2022.
4. „Washington und London, von Taubheit getroffen“, 1. Februar 2022,
5. „Washington und London versuchen, ihre Dominanz über Europa zu bewahren“, 8. Februar 2022.
6. „Zwei Interpretationen des ukrainischen Falles“, 16. Februar 2022.
7. „Washington läutet die Kriegsglocke, während die Alliierten sich zurückziehen“, 22. Februar 2022.
8. „Russland erklärt den Straussianern den Krieg“, 1. März 2022.
9. „Ein Haufen Rauschgiftsüchtiger und Neonazis
10. „Israel fassungslos über ukrainische Neonazis“, 8. März 2022.
11. „Ukraine: die große Manipulation“, 22. März 2022.
12. „Die Neue Weltordnung, die unter dem Vorwand eines Krieges in der Ukraine vorbereitet wird“, 29. März 2022
13. „Die Kriegspropaganda ändert ihre Form“ , 5. April 2022.
14. „Das Bündnis des MI6, der CIA und der Bandera-Anhänger“, 12. April 2022.

Die Vereinigten Staaten, die erst spät an den Weltkriegen teilnahmen und auf ihrem Territorium keine Verluste erlitten, gingen siegreich aus den Weltkonflikten hervor. Nach Übernahme der europäischen Imperien, entwickelten sie ein Herrschaftssystem, das sie zum „Polizisten der Welt“ machte. Ihre Hegemonie war jedoch nicht sicher und konnte der Entwicklung großer Nationen nicht widerstehen. Bereits 2012 begannen Politikwissenschaftler von der „Thukydides-Falle“ zu sprechen, in Analogie zur Erklärung des griechischen Strategen für die Kriege zwischen Sparta und Athen. Ihnen zufolge machte der Aufstieg Chinas ebenfalls eine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten unvermeidlich. Während China zur führenden Wirtschaftsmacht der Welt wurde und Russland zur führenden Militärmacht der Welt, beschloss Washington, sie beide nacheinander zu bekämpfen.

In diesem Zusammenhang kommt der Krieg in der Ukraine ins Spiel. Washington stellt ihn als „russische Aggression“ dar, ergreift Sanktionen und zwingt seine Verbündeten, sie ebenfalls zu ergreifen. Die erste Bemerkung, die einem in den Sinn kommt, ist, dass die Vereinigten Staaten, bewusst, dass sie militärisch minderwertig aber wirtschaftlich überlegen sind, beschlossen haben, ihr Schlachtfeld zu wählen. Die Analyse der beteiligten Kräfte und der ergriffenen Maßnahmen widerlegt jedoch diese Interpretation der Ereignisse.

Washington ermordete den irakischen Präsidenten Saddam Hussein und den libyschen Führer Muammar Gaddafi, weil sie es gewagt hatten, die Dominanz des Dollars in Frage zu stellen. Dann plünderte der Westen ihre Zentralbanken.

Das globale Wirtschaftssystem

Das globale Wirtschaftssystem wurde 1944 durch die Bretton-Woods-Abkommen geschaffen. Sie zielten darauf ab, einen Rahmen für den Kapitalismus über die Krise von 1929 hinaus zu schaffen, für die der Nationalsozialismus nicht die Lösung war. Die Vereinigten Staaten zwangen ihre in Gold konvertierbare Währung als Referenz auf. Weder die Sowjetunion noch die Volksrepublik China nahmen an dieser Konferenz teil.

1971 beschloss Präsident Richard Nixon, die Golddollar-Parität inoffiziell zu beenden. Er konnte so den Vietnamkrieg finanzieren. Es gab in Wirklichkeit keinen festen Wechselkurs mehr. Die Maßnahme wurde aber erst nach Kriegsende, im Jahr 1976 offiziell. Zu dieser Zeit ging auch China ein Bündnis mit den angelsächsischen multinationalen Konzernen ein. Die Europäische Gemeinschaft (Vorfahre der EU) passte sich an, indem sie 1972 die jetzt freien Wechselkurse regulierte (die „Währungsschlange“) und dann den Euro schuf.

Ab 1981 begannen die Vereinigten Staaten, ihre Schulden abrutschen zu lassen. Sie stiegen von 40% ihres BIP auf heute 130%. Die USA versuchten, die Weltwirtschaft zu globalisieren, also solventen Ländern ihre Regeln aufzuzwingen und die staatlichen Strukturen der übrigen Länder zu zerstören (Rumsfeld/Cebrowski-Strategie). Um ihre Schulden zu bezahlen, druckten sie Dollar, spionierten die Unternehmen ihrer Verbündeten aus und stahlen alle Reserven von zwei großen Ölstaaten, dem Irak und Libyen. Niemand wagte es, etwas zu sagen, aber ab 2003 war das US-Wirtschaftssystem nicht mehr das, was es zu sein behauptete. Offiziell waren sie immer noch Liberale, aber jeder konnte sehen, dass sie ihre eigene Nahrung oder Grundbedürfnisse nicht mehr produzierten und dass sie sich nur noch von Raubzügen ernährten.

Die US-amerikanische Wirtschaft, die bei der Auflösung der UdSSR ein Drittel der Weltwirtschaft ausmachte, liegt heute nur noch bei einem Zehntel.

Viele Staaten kamen dem Ende der Bretton-Woods-Regeln zuvor und dachten über ein neues System nach. Im Jahr 2009 gründeten Brasilien, Russland, Indien und China die BRICS-Staaten, bald gefolgt von Südafrika, für Afrika. Diese Länder haben sich Finanzinstitutionen geschaffen, die im Gegensatz zum IWF und zur Weltbank ihre Kredite nicht von Strukturreformen oder politischen Verpflichtungen Washington gegenüber abhängen. Sie bevorzugen, in Leasing zu investieren, wobei das Gastland Eigentümer der Investition wird, wenn diese rentable geworden ist.

Im Jahr 2010 gründeten Weißrussland, Kasachstan und Russland, bald gefolgt von Armenien, die Eurasische Wirtschaftsunion. Diese Grenzländer errichteten eine Freihandelszone mit Ägypten, China, Iran, Serbien, Singapur und Vietnam. Zu ihnen könnten Südkorea, Indien, die Türkei und Syrien hinzukommen.

Im Jahr 2013 begann China sein riesiges Projekt der „Neuen Seidenstraßen“. Im folgenden Jahr, als sein BIP das der Vereinigten Staaten in Kaufkraftparität übertraf, gründete Peking die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), und im Jahr 2020 schuf es ausländisches Kapital.

Im Jahr 2021 hat die Europäische Union ihr „Global Gateway“ entwickelt, um mit China zu konkurrieren und ihr politisches Modell durchzusetzen. Doch diese Forderung wurde von vielen Ländern als kolonialer Ausbruch erlebt und war Gegenstand einer massiven Ablehnung.

Allmählich haben sich der russische Block und der chinesische Block dank des gemeinsamen Projekts des „Great Eurasian Global Partnership“ (2016) im Rahmen der Shanghai Cooperation Organization einander angenähert. Es geht darum, den gesamten Raum zu entwickeln, indem ausgewogene Kommunikationskanäle auf den vom kasachischen Sultan Naserbajew definierten ideologischen Grundlagen geschaffen werden: Inklusivität, souveräne Gleichheit, Respekt kultureller und sozio-politischer Identität, Offenheit und Bereitschaft, andere Ensembles zu integrieren.

Washingtons Versuch, diesen sich bildenden Komplex zu zerstören, hat keine Chance auf Erfolg. Es ist auffällig, dass: – der wirtschaftliche Angriff nicht mit der Invasion der Ukraine begann, sondern zwei Tage zuvor; – dass er sich in erster Linie gegen russische Banken, russische Milliardäre und die russische Gasindustrie richtet und überhaupt nicht gegen das neue eurasische Kommunikationssystem;
und dass er schließlich darauf abzielt, Russland aus internationalen Organisationen auszuschließen, aber keine Staaten betrifft, die sich weigern, Russland zu verurteilen. Deshalb wird der wirtschaftliche Angriff sie in die Arme von Peking treiben.

Mit anderen Worten, die USA isolieren nicht Russland, sondern sie isolieren den Westen (10% der Menschheit) vom Rest der Welt (90% der Menschheit).

US-Präsident Joe Biden hat am 24. März den Vorsitz im Europäischen Rat geführt, dem die Vereinigten Staaten aber nicht angehören. Gemäß den europäischen Verträgen ist es die NATO, die die Sicherheit der Europäischen Union gewährleistet.

Der Vorgang der Trennung des Westens vom Rest der Welt

0. Gleich am nächsten Tag, nachdem Moskau die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannt hatte (21. Februar 2022), griffen die Vereinigten Staaten Russland wirtschaftlich an (22. Februar). Die Europäische Union folgte ihnen am Tag danach (23. Februar). Die Vnesheconombank und die Promsvyazbank wurden aus dem globalen Finanzsystem ausgeschlossen.

Vnesheconombank (VEB. RF) ist eine regionale Entwicklungsbank. Sie hätte dem Donbass helfen können. Die Promsvyazbank (PSB) investiert hauptsächlich in den Verteidigungssektor. Sie hätte im Rahmen des Amtshilfevertrags eine Rolle spielen können.

1. Als Russland eine militärische Sonderoperation in der Ukraine begann (24. Februar), weiteten die Vereinigten Staaten den Ausschluss der beiden größten Banken der Welt auf alle russischen Banken aus (25. Februar). Die Europäische Union folgte diesem Beispiel (25. Februar).

2. Um zu verhindern, dass sich möglichst viele Staaten Russland anschließen, weitet Washington die Handelsverbote auf Weißrussland aus. Die Europäische Union begann, russischen Banken gemäß früheren US-Anweisungen den Zugang zum SWIFT-System zu entziehen, verlängerte ihrerseits die Sanktionen auf Weißrussland und zensierte russische Staatsmedien Russia Today und Sputnik (2. März).

3. Washington begann, wohlhabende russische Bürger (fälschlicherweise „Oligarchen“ genannt) mit schlechten Beziehungen zum Kreml ins Visier zu nehmen (3. März) und die Einfuhr russischer Energieträger zu verbieten (8. März). Die Europäische Union folgte diesem Beispiel, widersetzte sich aber dem dringend benötigten Einfuhrverbot für russisches Gas (9. März).

4. Washington weitet die Finanzsanktionen innerhalb des IWF und der Weltbank aus, erweitert zudem die Liste der „Oligarchen“ und verbietet den Export von Luxusgütern nach Russland (11. März). Die Europäische Union zieht nach (15. März).

5. Washington stellt sicher, dass Duma-Mitglieder und Oligarchen im Westen keine Rechte mehr haben; dass Russland nicht mehr in der Lage sein wird, seine Vermögenswerte in den USA zu nutzen, um seine Schulden gegenüber den USA zu begleichen; und dass es nicht mehr in der Lage sein wird, sein Gold zur Begleichung seiner Schulden im Ausland zu verwenden (24. März). Die Europäische Union folgt ihm bei diesen Verboten. Sie verbietet die Einfuhr von russischer Kohle und Öl, aber immer noch kein Gasverbot.

Die folgende Tabelle fasst die Mitteilungen aus dem Weißen Haus und Brüssel zusammen.

USA Europäische Union
Die Vereinigten Staaten erlegen Russland den ersten Teil schneller und erheblicher Kosten auf“ (22. Februar) EU adopts sanctions package in response to recognition of areas of Ukraine’s Donetsk and Luhansk oblasts not controlled by the government (Feb. 23)
«United States and Allies and Partners Impose Additional Costs on Russia» (Feb. 24) First set of EU sanctions (February 25)
«The United States Continues to Impose Costs on Russia and Belarus for Putin’s War of Choice» (March 2) Second set of EU sanctions (March 2)
«The United States Continues to Target Russian Oligarchs Enabling Putin’s War of Choice» (March 3)«United States Bans Imports of Russian Oil, Liquefied Natural Gas, and Coal» (March 8) Third set of EU sanctions (March 9)
«United States, European Union, and G7 to Announce Further Economic Costs on Russia» (March 11) Fourth set of sanctions (March 15)
«United States and Allies and Partners Impose Additional Costs on Russia» (Mar. 24)«United States, G7 and EU Impose Severe and Immediate Costs on Russia» (Apr 6) Fifth round of EU sanctions (April 8)
Am 4. Februar 2022 unterzeichneten die russischen und chinesischen Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jinping eine gemeinsame Erklärung, in der sie ihre Vision für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung darlegen. Am Tag nach dem Einmarsch des russischen Militärs in die Ukraine am 25. Februar bestätigten sie telefonisch, dass die Reaktion der USA ihr Verständnis nicht ändern würde.

Die Antwort der restlichen Welt

Dies ist ein äußerst überraschendes Phänomen: Den Vereinigten Staaten ist es gelungen, eine Mehrheit der Staaten auf ihre Seite zu ziehen, aber diese Staaten sind die am wenigsten bevölkerten der Welt. Alles sieht so aus, als hätten sie keine Möglichkeit, Druck auf Länder auszuüben, die zur Unabhängigkeit fähig sind.

Infolge der einseitigen Aktionen der Angelsachsen und der Europäischen Union teilt sich die Welt in zwei heterogene Räume. Die Ära der wirtschaftlichen Globalisierung ist vorbei. Wirtschaftliche und finanzielle Brücken werden eine nach der anderen abgebrochen.

Russland reagierte schnell und überzeugte seine BRICS-Partner, ihren Dollarhandel einzustellen und schließlich eine gemeinsame virtuelle Währung für ihre Börsen zu schaffen. Bis dahin werden sie in Gold weitermachen. Diese Währung sollte auf einem Korb von BRICS-Währungen basieren, proportional dem BIP jedes Mitgliedstaats, und auf einem Korb börsennotierter Rohstoffe. Dieses System sollte viel stabiler sein als das Aktuelle.

Vor allem scheinen Russland und China ihren Partnern gegenüber viel respektvoller zu sein als der Westen. Sie fordern niemals Strukturreformen, weder wirtschaftliche noch politische. Die Ukraine-Affäre zeigt ganz offen, dass Moskau nicht versucht, Kiew die Macht zu entreißen und die Ukraine zu besetzen, sondern die NATO abzuwehren und die „Banderisten“ (die „Neonazis“ laut der Terminologie des Kremls) zu bekämpfen. Nur sehr legitime Sachen, auch wenn die Methode brutal ist.

In der Praxis erleben wir das Ende von vier Jahrhunderten Herrschaft der Westmächte und ihrer Imperien. Es ist ein Konflikt zwischen verschiedenen Arten zu denken.
Der Westen denkt jetzt nur noch in Wochen. Mit dieser Kurzsichtigkeit könnte er das Gefühl haben, dass die Vereinigten Staaten Recht haben und die Russen Unrecht. Der Rest der Welt denkt dagegen in Jahrzehnten, sogar Jahrhunderten. In diesem Fall besteht kein Zweifel, dass die Russen Recht haben und der Westen als Ganzes falsch liegt.
Darüber hinaus lehnt der Westen das Völkerrecht ab. Er griff Jugoslawien und Libyen ohne Genehmigung des Sicherheitsrates an und hat gelogen, um Afghanistan und den Irak anzugreifen. Er akzeptiert nur die Regeln, die er selbst macht. Dagegen streben die anderen Staaten eine multipolare Welt an, in der jeder Akteur gemäß seiner eigenen Kultur denkt. Sie sind sich bewusst, dass nur das Völkerrecht den Frieden in der Welt, wie sie sich ihn erträumen, bewahren würde.

Anstatt Russland und China zu konfrontieren, entschieden sich die Vereinigten Staaten dafür, sich in ihr Imperium zurückzuziehen: den Westen zu isolieren, um seine Hegemonie aufrechtzuerhalten.

Seit 2001 haben alle Staats- und Regierungschefs der Welt die Westmächte, insbesondere die Vereinigten Staaten, als verletzte Raubtiere betrachtet. Sie trauen sich nicht, ihnen zu widerstehen und suchen nach Wegen, sie freundlich auf den Friedhof zu begleiten. Niemand hatte gedacht, dass sie sich isolieren würden, um zu sterben.

Thierry Meyssan

Übersetzung
Horst Frohlich

Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

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Das Ende der westlichen Vorherrschaft
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