Das deutsche Rechtssystem und seine Gerichtsbarkeit

von Gert Flegelskamp (flegel-g)

Deutschland ist ein Rechtsstaat! Das weiß jeder!?? Warum weiß das jeder? Weil jeder mal Nachrichten sieht oder hört oder mal in einer Zeitung blättert (sowas steht sogar mitunter in der BILD) und weil wirklich jeder Politiker uns bei fast all seinen Floskeln daran erinnert.

Diese Aussagen beruhigen uns natürlich, zumindest solange, bis man beginnt, über diesen Begriff mal nachzudenken. Was heißt „Rechtsstaat“ eigentlich und was ist Recht überhaupt? Geht man diesen Fragen nach, erkennt man, dass auch Diktaturen von sich behaupten können, sie seien Rechtsstaaten, weil sie alle von uns als Scheußlichkeiten angesehenen Maßnahmen auf Basis von Gesetzen durchführen.

Nun könnte ich darauf verweisen, dass auch die Nazis all ihre Verbrechen auf Basis bestehender Gesetze betrieben haben. Aber ich verweise lieber auf ein Land, zu dem Deutschland und die USA gute Beziehungen unterhalten; Saudi Arabien. Ich versuche gar nicht erst, das saudische Rechtssystem zu erklären, weil ich es nicht verstehe und beschränke mich auf erfolgte Todesurteile und auf möglich andere Strafen:

Von 1993 bis 2013 wurden folgende Delikte am häufigsten mit dem Tod bestraft:

  • Mord: 1071 Personen
  • Drogenschmuggel/Handel: 540 Personen
  • Vergewaltigung/Missbrauch: 202 Personen
  • Schwerer Raub: 86 Personen
  • Rebellion: 63 Personen
  • Bombenattentate: 16 Personen
  • Summe: 1978 Todesurteie

Von den hingerichteten Personen von 1993 bis 2009 lag der Anteil der Ausländer bei 45 %

Das Strafrecht in Saudi Arabien sieht Entschädigungsbußgelder, Geldstrafen, Haftstrafen, körperliche Sanktionsstrafen (Peitschenhiebe), die Todesstrafe (öffentliche Enthauptung mit einem Schwert), Amputation von Gliedmaßen wie z. B. der Hand (bei schwerem Diebstahl, Straßenraub und bewaffnetem Überfall) sowie Bewährungsauflagen oder generelle Auflagen vor.

Merkwürdig finde ich, dass die Horrormeldungen über den IS offenbar auf dem saudischen Rechtssystem beruhen. Mich würde nicht wundern, wenn der IS vor allem Unterstützung aus Saudi Arabien erhält. Was mich auch wundert, der IS wütet in den Staaten, die vom Westen und der NATO angegriffen und destabilisiert wurden: IRAK, Libyen und Syrien, während Israel, der eigentlich der Feind Nr. 1 des IS sein müsste, unangetastet bleibt. Doch das nur nebenbei.

Ich denke, nach unseren Rechtsvorstellungen ist Saudi Arabien kein Rechtsstaat, aber sind unsere Rechtsvorstellungen wirklich ein Maßstab, um das Recht anderer Staaten beurteilen zu können?

Sehen wir uns doch unser Recht mal genauer an und urteilen dann. Recht basiert auf der Grundlage von Gesetzen und nach dem Verständnis vieler Deutscher gehört dazu als Basis die Verfassung, sozusagen das Fundament des Rechts. Nur, eine Verfassung muss es gar nicht geben. So haben die Briten z. B. keine geschriebene Verfassung. Das Vereinigte Königreich besitzt eine aus der besonderen Tradition des angelsächsischen Rechtskreises (Common law) erwachsene, ungeschriebene Verfassung. Zum einen beruht sie auf „quasi-konstitutionellen“ historischen Dokumenten wie z. B. auf der Magna Carta, der Petition of Rights und auf dem Habeas Corpus Act; zum anderen leitet sie sich von der Rechtstradition des Common Law her. So wurde in England der Konstitutionalismus zwar erfunden, aber nicht zu Ende geführt, was eben in dem anderen Verfassungsverständnis des englischen Rechtssystems (wie Common Law, Case Law und Rule of law) begründet ist.

Aus meiner Sicht hat auch Deutschland keine Verfassung, denn ich sehe das Grundgesetz nach wie vor als eine von den Besatzungsmächten nach WK II entstandene Grundordnung an, die erforderlich war, um den Deutschen wieder die Möglichkeit zu geben, die Verwaltungsaufgaben der BRD eigenständig durchzuführen, ohne jedes Mal auf die Genehmigung der Besatzungsmächte angewiesen zu sein. Dennoch ist das Grundgesetz das Fundament unserer Rechtsprechung, wenn auch mit einer erheblichen Schwäche. Es ist für eine Verfassung viel zu leicht änderbar (bisher 60 Änderungen in den 66 Jahren des Bestehens). Trotzdem gilt, dass Gesetze, die eine Regierung erlässt, auf der Rechtsverbindlichkeit des Grundgesetzes beruhen müssen. Verfassung oder Grundgesetz, es sind nur unterschiedliche Bezeichnungen für das Fundament eines Rechtswesens, nur wird der Terminus „Verfassung“ häufiger verwendet.

Weshalb es für mich keine Verfassung ist? Es war als eine Übergangslösung gedacht und vielleicht aus diesem Grunde auch so gestaltet, dass es leicht zu ändern ist. Dass die Ausarbeitung des Grundgesetzes von den westlichen Alliierten beeinflusst wurde, wird nach meinem Dafürhalten aus den Artikeln 24 bis 28 der Urfassung ersichtlich. Damals gab es noch keine EU, kein GATT, und auch andere supranationale Einrichtung wie IWF, Weltbank, WHO waren noch im Gründerstatus. Die Überlegungen zur EU hingegen waren ein Lieblingskind der Franzosen unter dem französischen Außenminister Schumann unter maßgeblicher Beteiligung von Jean Monet (der zwar in beiden Weltkriegen kräftig mitgemischt hat, aber nie ein politisches Amt bekleidete). Die USA haben die Gunst der Stunde genutzt, all die von ihnen dominierten supranationalen Organisationen ins Leben zu rufen. Der Anfang zur EU wurde 1951 mit der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) gemacht und der Beitritt der BRD zu den einzelnen ins Leben gerufenen Institutionen ließ auch nicht lange auf sich warten und das alles wurde den BRD-Bürgern als Privileg verkauft.

Aber zurück zum Grundgesetz und den Gesetzen. Wie kommen Gesetze zustande? Dem Wortlaut nach sind wir eine parlamentarische Demokratie. Das bedeutet, dass die Regierung, das Parlament bzw. Teile des Parlaments und der Bundesrat Gesetzesvorschläge einbringen können, das so genannte Initiativrecht (geregelt in Art. 76 GG). Ein Gesetzesvorhaben aus den Reihen des Parlaments muss von mindestens 5% der Parlamentarier unterstützt werden. Mit dem Einbringen eines Gesetzesvorschlags wird ein bestimmtes Ziel verfolgt, das von der Gruppe, die den Entwurf einbringt, im Entwurf beschrieben wird. Das Wie und Warum richtet sich dann nach der Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates.

Das Parlament stimmt dann darüber ab, ob dieses Gesetz angenommen oder zurückgewiesen wird. Dabei tritt dann eine Schwäche unseres Rechtssystem zutage. Inoffiziell gibt es den Fraktionszwang und wer dem nicht folgt, wird als „Abweichler“ bezeichnet. Dabei besagt das Grundgesetz eindeutig, dass jeder Angeordnete frei in seinen Entscheidungen und nur seinem Gewissen verantwortlich ist. Doch dieser Fraktionszwang ist eine Art der Parteiendoktrin, was unsere parlamentarische Demokratie ad absurdum führt, weil wir damit in Wirklichkeit eine Parteien-Demokratie sind.

Soll ein Gesetz beschlossen werden, muss es natürlich auch daraufhin überprüft werden, ob es mit den Grundgesetz vereinbar ist. Ich gehe davon aus, dass diese Prüfung durch das Innen- und das Justizministerium erfolgt und mitunter auch Verfassungsrichter (amtierende oder ehemalige) beratend hinzugezogen werden. Dabei geht es aus meiner Sicht weniger darum, die Verfassungsmäßigkeit einzuhalten, sondern eher darum, die Klippen des Grundgesetzes zu umschiffen. Und weil die Verfassungsrichter von der Politik „handverlesen“ eingesetzt werden, reicht es mitunter, den Interpretationsspielraum von Gesetzen so breit aufzustellen, dass man darauf vertrauen kann, dass die Richter des BVerfG genügend Spielraum haben, Gesetze zugunsten politischen Wollens interpretieren zu können.

Ein kleines Video der BpB (Bundeszentrale für politische Bildung) zeigt anschaulich, Wie ein Gesetz entsteht.

Die letzte Hürde vor der Verabschiedung eines Gesetzes ist also der Bundespräsident (BP), wie das Video zeigt. Nun, ich weiß, das als Hürde zu bezeichnen ist eher lächerlich, denn in fast allen Fällen unterzeichnet der BP die Gesetze, die ihm zur Unterschrift vorgelegt werden. Es ist seit 1949 insgesamt nur 8 mal vorgekommen, dass ein BP seine Unterschrift verweigert hat.

  • Heuss unterschrieb 1951 das „Gesetz über die Verwaltung der Einkommen- und Körperschaftsteuer“ aus rein formalen Gründen nicht, weil keine Zustimmung des Bundesrats vorlag.
  • Neun Jahre später verweigerte sein Nachfolger Heinrich Lübke dem „Gesetz über den Betriebs- und Belegschaftshandel“ seine Unterschrift. Er sah darin einen unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).
  • Zweimal zeigte Heinemann dem Gesetzgeber seine Grenzen auf: Sowohl für das Ingenieurgesetz (1969) als auch das Architektengesetz (1970) sah er keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegeben.
  • Das „Gesetz zur Erleichterung der Wehrdienstverweigerung“ wurde 1976 von Scheel gestoppt, der die Zustimmung des Bundesrats vermisste.
  • Bundespräsident von Weizsäcker hielt 1991 das „10. Gesetz zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes“, welches die formale Privatisierung der Luftverkehrsverwaltung vorsah, für materiell verfassungswidrig und unterzeichnete es nicht. Dies führte zur Einfügung des Art. 87d Abs. 1 Satz 2 in das Grundgesetz, der es dem Gesetzgeber freistellte, ob er die Luftverkehrsverwaltung in öffentlich-rechtlicher oder in privatrechtlicher Weise gestaltet. Daraufhin wurde das Gesetz erneut beschlossen und schließlich durch von Weizsäcker unterzeichnet.
  • Horst Köhler unterschrieb im Oktober 2006 das Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung wegen Unvereinbarkeit mit Art. 87d Abs. 1 GG nicht. Im Dezember 2006 wies er das Verbraucherinformationsgesetz zurück, da es aus seiner Sicht im Widerspruch zu Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG stand, der es dem Bund verbietet, per Gesetz den Gemeinden Aufgaben zu übertragen

Mit der Unterschrift des BP ist ein Gesetz beschlossen (in der Fachsprache ratifiziert) und wird im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und zum angegebenen Stichtag gültig. Bis zu diesem Stichtag können Mitglieder des Parlaments (zumeist die Opposition) noch gegen das Gesetzesvorhaben beim BVerfG eine Beschwerde einreichen, die so genannte Organklage. Mehr darüber kann man bei Wikipedia nachlesen.

Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung, das BVerfG sei das höchste Gericht, sei hier noch einmal betont, dass das unrichtig ist. Die höchsten Gerichte sind die unterschiedlichen Bundesgerichtshöfe. Das BVerfG ist ein Sondergericht, das nur angerufen werden kann, wenn Zweifel daran bestehen, dass bei einer Behörde oder auch bei einem Urteil eines Bundesgerichtes die verfassungsmäßigen Rechte gewahrt wurden. Nur im ersten Jahr nach Inkrafttreten eines Gesetzes kann eine Verfassungsbeschwerde direkt eingereicht werden, danach muss der Klageweg durch alle Instanzen bis zu den Bundesgerichten beschritten werden. Erst wenn der zuständige Bundesgerichtshof eine Klage ebenfalls aus Sicht des Klägers negativ beschieden hat, kann dieser das BVerfG anrufen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das BVerfG dann mit seiner Beschwerde befasst, liegt bei ca. 3%. Grundsätzlich muss dabei gewährleistet sein, dass der Beschwerdeführer selbst direkt von dem beklagten Gesetz betroffen ist. Anders ausgedrückt, man kann keine Organisation damit beauftragen, vertretungsweise für eine Gruppe von Menschen eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Es gibt in Deutschland keine Sammelklagen und vor allem beim BVerfG zählt ausschließlich die individuelle Betroffenheit, egal ob Person, Organisation oder Unternehmen.

Das Hauptproblem ist aber, dass man Gesetze nicht wörtlich nehmen darf. Höchstrichterlich wurde dazu geäußert, dass die Auslegung von Gesetzen nicht nach dem Wortlaut, sondern nach dem „Geiste“ auszulegen sind. Wie unterschiedlich diese „geistige Auslegung“ sein kann, sieht man immer dann, wenn Klagen von einer Instanz zur nächsten wandern und man dann die Auslegungen miteinander vergleicht.

Gerichte können das BVerfG nach Art. 100 GG anrufen. Sie tun das nur äußerst selten und äußerst ungern, denn damit ist ein gewaltiger Aufwand verbunden, weil das Gericht ausführlich begründen muss, warum aus seiner Sicht ein Gesetz nicht den verfassungsmäßigen Grundrechten genügt. Das bedeutet, sie müssen zuvor massenhaft Rechtsliteratur studieren und machen sich außerdem vermutlich den Gesetzgeber, also die Regierung zum Feind, was sich als Hemmschuh für die weitere Karriere auswirken kann. Zwar sind Richter nominell unabhängig, was ihre Rechtsprechung angeht, nicht aber, soweit es ihre Karriere betrifft.

Fakt ist aber, dass es immer wieder mal passiert, dass das BVerfG ein Gesetz kippt, weil es bei allen Interpretationsmöglichkeiten offenbar keinen Weg gefunden hat, zu begründen, dass dieses Gesetz die verfassungsmäßigen Kriterien erfüllt. Dabei sind die Begründungen der Verfassungsrichter in ihren Entscheidungen oftmals mehr als grenzlastig. Davon können z. B. Rentner ein Lied singen. So wurden z. B. Verfassungsbeschwerden abgewiesen, die die der GRV aufgebürdeten Fremdlasten betrafen. Als Begründung führten die Verfassungsrichter an, die GRV sei ein Solidarsystem und daher habe der Gesetzgeber einen großen Ermessungsspielraum bei seinen Eingriffen in das Rentensystem. Unberücksichtigt blieb, dass die GRV ein in sich geschlossenes Solidarsystem ist, das nur die Bürger umfasst, die in das System Beiträge einzahlen, während die Eingriffe des Gesetzgebers mit den Fremdlasten, die als gesellschaftspolitische Anliegen alle Bundesbürger betreffen, ausschließlich die GRV-Beitragszahler belastet werden. Der von Politikern stets ins Spiel gebrachte Bundeszuschuss zur Rente dient lediglich als Ausgleichszahlung für diese Fremdlasten.

Dass das BVerfG mit zweierlei Maß urteilt, beweist das Urteil zur Besteuerung der Renten. Ein Richter hatte eine Beschwerde eingereicht, weil er es ungerecht fand, dass er auf seine Pension Steuern zahlen musste. Richter unterliegen wie Beamte dem Alimentationsprinzip. Das bedeutet, sie zahlen keine eigenen Beiträge für ihre Altersvorsorge, die Höhe ihrer Pension richtet sich nach dem Einkommen der letzten beiden Dienstjahre und beträgt mehr als 70% dieser zuletzt erhaltenen Bezüge.

Der GRV-Rentner hingegen erhält eine Rente, die sich aus den Beitragszahlungen seiner gesamten Dienstzeit errechnet. Die Beitragszahlungen sind in ihrer Höhe gedeckelt (Beitragsbemessungsgrenze) und wurden aus dem versteuerten Einkommen gezahlt.

Die Lösung, die das BVerfG wählte, brachte dem Beschwerdeführenden Richter keine Steuerbefreiung, aber den Beitragszahlern der GRV eklatante Nachteile. Die Steuern für Renten wurden ab dem Stichtag der aus dem Urteil erfolgten Gesetzesänderung auf 50% festgesetzt und eine Staffelung eingeführt, wie der bisher unversteuerte Anteil der Rente im Laufe der Jahre abgeschmolzen wird, bis die Rente zu 100% (wie auch die Pensionen) versteuert werden müssen. Die nachfolgende Tabelle zeigt auf, wie hoch der zu versteuernde Anteil der Rentenzahlungen ist, abhängig vom Jahr des Renteneintritts:

Jahr für Jahr steigt der Prozentsatz des steuerpflichtigen Teils der Rente für die jeweiligen Neurentner um zwei Prozentpunkte. Bei einem Rentenbeginn im Jahr 2020 liegt er somit bei 80 Prozent der Jahresbruttorente.

Danach erhöht er sich für Neurentner jeweils nur noch um einen Prozentpunkt. Alle Renten, die im Jahr 2040 oder später beginnen, sind dann zu 100 Prozent zu versteuern.

Prozentsätze zur Berechnung des Rentenfreibetrags
Jahr des Rentenbeginns Besteuerungsanteil in Prozent Prozentsatz für Rentenfreibetrag
Bis 2005 50 50
2006 52 48
2007 54 46
2008 56 44
2009 58 42
2010 60 40
2011 62 38
2012 64 36
2013 66 34
2014 68 32
2015 70 30
2016 72 28
2017 74 26
2018 76 24
2019 78 22
2020 80 20
2021 81 19
2022 82 18
2023 83 17
2024 84 16
2025 85 15
2026 86 14
2027 87 13
2028 88 12
2029 89 11
2030 90 10
2031 91 9
2032 92 8
2033 93 7
2034 94 6
2035 95 5
2036 96 4
2037 97 3
2038 98 2
2039 99 1
ab 2040 100 0

Ob nun die Beitragszahlungen in gleichem Maße von der Besteuerung befreit wurden, vermag ich nicht zu sagen. Aber einen Verdacht kann ich mir nicht verkneifen. War diese Beschwerde und das sich daraus ergebende Urteil vielleicht eine abgekartete Sache? Wer GATS gelesen hat, weiß, dass die Privatwirtschaft scharf darauf ist, das Rentensystem zu privatisieren. Wird die gesetzliche Rente erst einmal zu 100% versteuert, ist dieses Vorhaben viel leichter umzusetzen und ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Forderungen nach der Privatisierung mit TTIP erheblich intensiviert werden. Bei einer voll versteuerten Rente ist die Abgrenzung zwischen gesetzlicher und privater Rentenversicherung auf ein Minimum reduziert und macht die Privatisierung erheblich einfacher.

Sollte mein Verdacht unrichtig sein, gehe ich davon aus, dass der Beschwerdeführende Richter eine andere Regelung erhofft hatte. Er wollte sicherlich, dass seine Pension von der Steuer befreit würde. Das hat er nicht erreicht. Stattdessen aber, dass Millionen künftige Rentner ihre ohnehin im Vergleich eher dürftigen Renten in absehbarer Zeit voll versteuern müssen.

Aber vielleicht war diese Beschwerde und dieses Urteil des BVerfG wirklich politisch motiviert, weil seitens der Privatwirtschaft starkes Interesse besteht, das Rentensystem zu privatisieren (das steht ganz oben auf der Wunschliste von GATS und wird, wenn erst einmal TTIP und TISA realisiert sind, sicherlich zu einem der ersten Streitpunkte zwischen „Investoren“ und Staaten werden). Dabei sollte man an den Spruch denken, den der heutige Kommissionspräsident Jean Claude Juncker 2014 äußerte:

  • Das einzige Mittel, etwas Demokratisches demokratisch zu stoppen, ist Geschrei und Aufstand! „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
    Premierminister von Luxemburg Jean-Claude Juncker erklärt seinen EU-Kollegen die Demokratie

Für mich ist das BVerfG nichts weiter als ein Feigenblatt unseres Rechtssystems. Rund 97% aller Verfassungsbeschwerden werden abgelehnt, zum großen Teil ohne Begründung. Kommt eine Beschwerde wirklich mal zur Verhandlung, wird nur punktuell geurteilt, also genau der Teil einer Beschwerde, von der ein Beschwerdeführer sich betroffen fühlt, was zumeist nur einen kleinen Teil eines Gesetzes oder gar Gesetzes-Paketes ausmacht. Im Urteil wird bei einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde nur der Änderungsbedarf an dem Gesetz beschrieben. Der Gesetzgeber bekommt eine Frist für Entwicklung und Einbidung der geforderten Änderungen gesetzt, aber keine Instanz überprüft, ob die vom Gesetzgeber vorgenommenen Änderungen nun wirklich verfassungsgemäß sind. Als Beispiel sei das Urteil genannt, das bei der Bedarfsberechnung für Hartz IV gefällt wurde. Die von der von der Leyen dann geänderte Bedarfsberechnung ist aus meiner Sicht noch verfassungswidriger als der vorherige und als verfassungswidrig erkannte Berechnungsmodus. Aber die von der Leyen hat der Anforderung des BVerfG genügt. Sie hat eine Veränderung vorgenommen und wenn überhaupt, wird es viele Jahre dauern, bis diese neue Regelung noch einmal zur Überprüfung vor das BVerfG gelangt.

Denkt man darüber nach, wie viele Gesetze es gibt, deren Verfassungsmäßigkeit durchaus Zweifel zulassen, wie viele Gesetze es gibt, die im 3. Reich verfasst wurden, aber dennoch auch heute noch Gültigkeit besitzen und stellt demgegenüber die Gesetze bzw. deren Einzelnormen, die wirklich mal vom BVerfG untersucht wurden, lässt das aus meiner Sicht den von Presse und Politik diesem Gericht verpassten Heiligenschein schon ein wenig verblassen (natürlich ist das meine private Meinung).

Wir sind ein Rechtsstaat, unzweifelhaft. Doch welches Recht wird wirklich praktiziert? Ich glaube, dass das Faustrecht unsere Rechtsgrundlage ist, denn wenn der mittellose Bürger sein Recht sucht, hat er so gut wie keine Chance, gegen Unternehmen oder Organisationen anzukommen. Letztere treten immer mit eine Schaar von Anwälten auf und haben keinerlei Probleme damit, den über Jahre hinweg andauernden Instanzenweg bis zur höchsten Instanz, dem zuständigen Bundesgerichtshof, zu beschreiten. Schaut man sich dann die Urteile der unterschiedlichen Instanzen an, die Begründungen „im Geiste der Gesetze“ liefern, wie sie mitunter unterschiedlicher nicht sein können, muss man sich mitunter fragen, warum es überhaupt Gesetzestexte gibt, wenn diese dann der Beliebigkeit der Interpretation ausgesetzt werden. Und ein Grundgesetz, das ebenso beliebig den politischen Wünschen angepasst werden kann und auch wird, ohne dass der Souverän etwas dagegen tun kann, ist keine Verfassung. Die US-Verfassung ist mehr als 200 Jahre alt und wurde in dieser Zeit nach meiner Kenntnis 3 mal geändert. Unser Grundgesetz ist 66 Jahre alt und wurde in dieser Zeit 60 mal geändert und etliche dieser Änderungen umfassten gleich mehrere Artikel des GG.

Und Politiker wissen oft inhaltlich selbst nicht, worüber sie abstimmen, weil sie sich nur flüchtig (wenn überhaupt) mit den Inhalten auseinandersetzen. Es sind die so genannten Fachausschüsse, die sich inhaltlich mit den Vorhaben auseinandersetzen und je nach Partei das Pro und Kontra ausarbeiten. Die Regierungsparteien werden ganz sicher keine dem Vorhaben gegenüber kritisch eingestellte Abgeordnete in solche Fachausschüsse beordern. Bei der Ausarbeitung ist dann nicht nur der Regierungsapparat eingebunden, sondern ebenfalls externe „Helfer“, die von einer „interessierten“ Wirtschaft gerne zur Verfügung gestellt werden. Nur wenige der nicht in einen Fachausschuss eingebundenen Politiker arbeiten wirklich durch, worüber sie später abstimmen müssen. Der eher größte Teil erfährt ein paar Eckpunkte, die normalerweise reichen, um Fragen von Reportern beantworten zu können. Sich um unerwartete Fragen herum zu winden, ist aus meiner Sicht eine der ersten Lektionen, die Neulinge im Parlament zu lernen haben.

Andererseits, wie sollte ein Rechtssystem beschaffen sein? Es sollte gerecht sein!! Aber mal ehrlich, wie sieht Gerechtigkeit aus? Gerecht ist doch aus Sicht des Einzelnen zumeist das, was ihm persönlich zum Vorteil gelangt. Das wird derzeit bei der Frage, wie mit den Flüchtlingen umgegangen werden soll, besonders deutlich. Ein großer Teil der Menschen in unserem Land stellt sich erst gar nicht die Frage, welches Schicksal diese Flüchtlinge zur Flucht veranlasst hat, sondern urteilt pauschal, die wollen nur unser Geld und unsere Jobs.

Doch das ist eine anderes Thema und dient hier nur dazu, die Frage nach einem Rechtssystem, das allen gerecht wird, zu beantworten. Ein solches Rechtssystem wird es wohl nie geben, dafür sind wir Menschen zu sehr auf unsere persönlichen Befindlichkeiten fixiert. Wie heißt der alte Spruch noch? „Dem eenen sin Ul is dem annern sin Nachtijall!“

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