Mit Politik und Wirtschaft wird nichts besser
Ein lesenswerter Artikel von Lorenz Glatz (streifzuege)
„Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten“, ob das nun von Rosa Luxemburg, Kurt Tucholsky, Emma Goldman oder sonstwem stammt, so falsch ist der Spruch nicht, und in kritischen Kreisen ist er auch ganz geläufig. Dass es dann aber wenig Sinn macht, Wahlen allzu große Bedeutung beizumessen und sich an ihnen selbst zu beteiligen, ist in den letzten Jahren dort eher wieder ein no go geworden. Überhaupt seit die Welt Trump statt Clinton bekommen hat. An die Wurzeln gehende Gesellschaftskritik scheint etwas zu sein, was auch für viele kritische Menschen im Getöse der Wahlkämpfe und der politischen Auseinandersetzungen nicht formulierbar und praktikabel ist. Vielmehr erfasst sie das Gefühl: Es soll wenigstens gerade so bleiben, wie es ist. Und wenn es schon bergab geht, dann bitte ein wenig langsamer! Nach einer Perspektive klingt das nicht gerade.
Aber ja, dass wir hierzulande „immerhin“ den grünen Marktwirtschaftsprofessor Van der Bellen statt dem Rechtsaußen Hofer in der Hofburg sitzen haben, ist doch ein Erfolg gerade linker Mobilisierung. Dass in Paris statt Le Pen jetzt der wirtschaftsliberale Macron als „Präsident der Reichen“ Arbeitsrecht und Steuern reformiert, auch. In Tschechien will der Wahlsieger und Milliardär Babiš das Land wie seinen Betrieb regieren, nachdem die Kommunisten die Hälfte, die Sozialdemokraten fast zwei Drittel ihrer Stimmen verloren haben. In Deutschland ist der schwarzroten Koalition jeder fünfte Wähler davongelaufen und dafür die AfD gleich als drittstärkste Partei neu ins Parlament gesprungen. In Österreich schließlich war der rote Kern gegen die (neu)türkis-blauen Kurz & Strache auch nicht mehr zu retten, obwohl von den zu den Urnen eilenden Linken dafür die Grünen geopfert, ja sogar aus dem Parlament geworfen wurden.
Der Katzenjammer ob alledem ist allenthalben groß. Das Schimpfen auf die „depperten Wähler“ und das Warten auf die nächsten Wahlen verdeckt die Ratlosigkeit auch nicht mehr wirklich. Hier ein paar Betrachtungen dazu.
1.
Die Parteienlandschaft teilt sich nicht bloß in Links, Mitte, Rechts, sondern sie bewegt sich als Ganzes seit Jahrzehnten nach rechts. Die Bedeutung des Worts „Reform“ ist dafür ein aufschlussreiches Beispiel. – War es bis in die 70iger Jahre noch die Ankündigung von mehr Geld, Freizeit, individueller Freiheit usw., so weiß eins nunmehr schon bei der Erwähnung des Wortes, dass es um Einsparung, Kürzung, Privatisierung, Intensivierung von Arbeit, Überwachung und ähnliche Notwendigkeiten der Systemlogik und des staatlichen Zugriffs geht. In Österreich war die Sozialdemokratie in 61 von 72 Jahren seit dem letzten Weltkrieg in der Regierung und hat den Großteil dieser Maßnahmen entweder selbst gesetzt oder mitgetragen. Und in Deutschland war es die Partei Bebels und Liebknechts, deren „Hartz 4“-Arbeitsgesetze mit Entrechtung und Zwangsmaßnahmen den größten Billiglohn-Sektor Europas geschaffen haben, der die „deutsche Wirtschaft“ bis jetzt noch am Welken der anderen florieren lässt. Und wenn tatsächlich wie in Griechenland ein „Block der radikalen Linken“ an die Regierung kommen konnte und den Kapitalismus einmal „anders“ verwalten wollte, dann haben diese nach ihrem Wahlsieg binnen ein paar Wochen nachgelernt. Das kleinere Übel wächst von Wahl zu Wahl.
2.
Die Rechtsdrift aller Parteien hat mit dem Zustand von Politik und Wirtschaft zu tun. Für den Staat und seine Parteien ist der Kapitalismus alternativlos. Sie sind zwei Seiten einer Münze. Wer sich auf die eine einlässt, hat auch die andere. Auch keine revolutionäre Partei ist dieser Logik entgangen. Der moderne Staat erzwingt, verwaltet, ordnet und schützt die Grundlagen der Wirtschaftsweise, d.h. die Arbeitskraft und das Kapital sowie den Zugang zur Verwertung der Ressourcen dieser Erde. Und die kapitalistische Wirtschaft erhält den Staat mit Steuern auf Lohn, Profit und Konsum und bei Bedarf das politische Personal mit Extragaben. Das Duo setzt sich leichtfüßig und Zugeständnissen ans arbeitende Volk nicht abgeneigt über jeden auch grundsätzlichen Widerstand hinweg, solange der Kapitalismus (mit welchen Folgen für Mensch und sonstige Natur auch immer) rentabel produzieren, d.h. investiertes Geld durch Arbeit und Produktverkauf vermehren kann. Und solange der Staat dafür mit Politik, Diplomatie und ihrer Fortsetzung mit den Mitteln der Gewalt dafür im Inneren und nach außen geeignete Bedingungen herstellen kann. Beide Voraussetzungen schwinden seit Jahrzehnten dahin. Und die Rettung, die steht immer „rechts“, beim selben, aber schärfer. Da mag eins wählen, was er/sie will.
3.
Seit dem Ende des Nachkriegsbooms stockt das Wachstum, schmilzt die Vermehrung des Gelds durch Vermarktung, d.h. der Lebenszweck von Marktwirtschaft, unlösbar verschärft durch den Umstand, dass die neue technische Revolution der Mikroelektronik mehr Arbeit einspart, als sie neue Plackerei erschafft. Der Kapitalismus muss also von natürlichen und menschlichen „Schlacken“ gereinigt werden, um noch irgendwie seinem Zweck zu entsprechen: Globalisierung und Liberalisierung von Arbeit und Produktion, Handel und Finanzmärkten – die ganze Welt muss „verwirtschaftet“, der Mensch möglichst restlos ein homo oeconomicus werden, dessen Leben in Arbeit und Konsum aufgeht.
Die „guten alten Zeiten“ der florierenden Kapitalverwertung kehren trotzdem nicht und nicht wieder. Betriebsgewinne werden daher oft nicht mehr in die Produktion investiert, sondern „sicherheitshalber“ in „krisensicheren“ Realien geparkt oder zwecks höherer Renditen spekulativ in Aktien und „in Veranlagungen, denen nichts Reales gegenübersteht“, investiert. Das Tagesgeschäft hängt inzwischen am Tropf der Staatsverschuldung zur Finanzierung von Wirtschaftsförderungen, Investitionen, Staatsaufträgen und an den Käufen von Anleihen und Aktien durch die Notenbanken mit aus dem Nichts geschöpftem Geld. Dieses deficit spending bleibt jedoch – anders als noch in den Fünfzigern und Sechzigern – eine Finanzblase, die jederzeit platzen kann.
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Nach 40 Jahren Neoliberalismus hat die entfesselte Konkurrenz weltweit die Einkommensschere aufgerissen, Millionenmassen überflüssig gemacht und verarmen lassen. Selbst auf der einstigen „Insel der Seligen“ haben laut Rechnungshof die noch verwertbaren ArbeiterInnen in 15 Jahren real mehr als ein Siebtel ihres Lohns verloren, im Wirtschaftswunderland wiederum ist z.B. in Dortmund jeder 7. Mensch auf „Hartz 4“ angewiesen (RuhrNachrichten 18.11.17), aber die acht reichsten Menschen der Welt haben so viel Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit zusammen (Oxfam laut Spiegel online 16.1.17). Am Weltmarkt gescheitert zerbrechen Staaten, toben Bürgerkriege, herrschen Warlords, werden Genozide verübt und zig Millionen Menschen vertrieben. Und der im Süden begonnene Niedergang frisst sich nordwärts weiter.
Wer in dieser Welt mehr oder weniger unter die Räder kommt und trotzdem bzw. gerade deshalb über Staat und Wirtschaft als Lebensform nicht hinaussieht und -will, dem bleibt wenig anderes als die Gefolgschaft der schreienden, buntscheckigen, liberal strahlenden oder wüst hetzenden, ziemlich irren oder wie Sternschnuppen verglühenden „neuen Staatsmänner“. Und sei es nur, um voll Wut deren Vorgänger „abzustrafen“ und angesichts der eigenen sinkenden Löhne diejenigen auf Hungerdiät zu setzen, die noch schlechter dran sind.
4.
Die unendliche Verwertung (und Vermüllung) der Natur durch den Lebenszweck Arbeit scheitert inzwischen aber auch an der Begrenztheit und am empfindlichen Zusammenhang der Ressourcen der Erde. Z.B. gibt es in den Meeren schon sechsmal mehr Plastik als Plankton und in absehbarer Zeit mehr Plastikmüll als Fisch (Wiener Zeitung 12.9.17). Auf dem Festland werden allein in der EU täglich 275 ha Land versiegelt (People4Soil), in Österreich würde es in 200 Jahren bei diesem Tempo keinen Meter Ackerland mehr geben (IHS). Und der CO2 -Gehalt der Luft steigt auch nach der x-ten Klimakonferenz. Alle ökologischen Übel vermehren sich unvermeidlich weiter, wenn „hart“ und „ehrlich“ gearbeitet wird, die Wirtschaft floriert, der Konsum zunimmt und der Staat auf Ordnung schaut.
Die Biosphäre des Planeten reagiert auf die Ausbeutung und Verwüstung durch den auf Arbeit und Konsum getuneten Menschen mit Artensterben und Klimawandel, was weite Teile der Kontinente für Menschen und viele andere Tiere unbewohnbar machen wird. Aber wirksame Gegenmaßnahmen vermindern unweigerlich das laufende Geschäft, machen Leute arbeitslos und kosten vor allem Wählerstimmen. In dieser Kombination ein Greuel für Politik und Wirtschaft. Das Ökologischste, das Ökonomie und Politik für möglich halten, ist grüne Marktwirtschaft: Geschäft mit „Öko“, „Bio“ und „Regional“ (selbstverständlich mit gehöriger Rücksicht auf Auto-, Atom-, Öl- und Kohlekonzerne). Aber wenn sich das Geschäft rentieren soll, muss der Konsum weiter wachsen und mit ihm Verschwendung und Verwüstung. Um die menschliche Zivilisation auszulöschen, braucht es keinen Meteor oder Kometen, es reicht die Marktwirtschaft, ob demokratisch oder autoritär.
5.
Aber was kann eins da noch tun für eine lebbare und lebenswerte Welt für unsereinen und die anderen Tiere? Jenseits der vergeblichen Hoffnung auf Staat und Wirtschaft und jenseits der Vorstellung, wir könnten aus dem Stoff der alten Lebensweise eine neue formen. Das geht im Guten nicht und nicht im Schlechten, mit Reform nicht, nicht mit Revolution. Jeder Umbau stünde auf dem erodierten Fundament des Alten, und noch jeder Umsturz brachte neue Herrschaft, weil das der Inhalt von Gewalt ist.
Es muss wohl ein Abwickeln sein, ein Auflösen, Abtragen von Strukturen jedweder Herrschaft, nicht nur der Wertverwertung, auch des Rassismus, des Sexismus und was sonst in uns herangewachsen ist an Denken, Fühlen, Praxis der Selbstunterwerfung und der Unterdrückung der jeweils anderen. Der Hobbsche Wolf, der Patriarch, die Sklavin, es sind nicht bloß aufgezwungene, es sind in Resignation entfaltete und aus- und umgestaltete Gewohnheiten seit Jahrtausenden.
Zugleich aber würde die Lust des freien Tätigseins wachsen, der Freude an einander, des Sorgens für einander und die Mitwelt. Nicht in der Logik des Nutzens und des Tauschs, sondern indem ich für die mir gegenüber und nebenan sorge und ebenso dann für jedes Wesen – Mensch, anderes Tier, die ganze Welt – auch für mich. Wenn wir so zu einander stünden, brauchten wir für ein gutes Leben nur einen Bruchteil der Surrogate des „Konsums“. Solange wir eine Ahnung von alledem noch haben, von der Praxis grundlegender Verbundenheit aller Wesen, von Verlässlichkeit, Freundschaft, Liebe, haben wir die Möglichkeit, Herrschaft hinter uns zu lassen. Solch animistisch angehauchte Ahnungen und Stimuli können in der Seele auftauchen, wenn wir uns einen Fußbreit raus stellen aus den Zumutungen der heute herrschenden Lebensweise.
Zurück auf den so genannten Boden der Realität! In Lateinamerika sind die Peripherien der großen Städte voll von Menschen, die der Kapitalismus als unverwertbar ausgespien hat und der Staat folgerichtig vor allem als Sicherheitsproblem wahrnimmt. Es sind zu einem großen Teil Indigenas, die noch Erfahrung haben mit nicht-kapitalistischer, gemeinschaftlicher Lebensweise. Wenn wir unsere metropolitane Ansicht der Verhältnisse zu „dekolonisieren“ bereit sind, zeigt sich uns dort nicht einfach perspektivloser „Überlebenskampf“, sondern es erscheinen vielfältige, asymmetrische Kämpfe um Ressourcen der Subsistenz, Praktiken kooperativen Zusammenlebens in frei gebildeten „Familien“ und Vierteln, in Selbstorganisation und in Distanz zu Staat und Politik. Sie bilden heute „Territorien des Widerstands“ (Raul Zibechi), formieren stellenweise sogar große Verbände der Versorgung vom Gesundheitswesen über Lebensmittel bis zur Bestattung in für unsereinen kaum vorstellbaren Kooperativen ohne Hierarchien und Leitung (Cecosesola). Ihre Ordnung und Lebensweise folgt in vielem nicht mehr der Logik, den Vorstellungen und Gefühlen von Herrschaft und Verwertung. Die geistige und materielle Dominanz des Kapitalismus wird dort brüchig.
Für Europa freilich sieht Zibechi keine Hoffnung auf ein anderes Leben. Tatsächlich ist hier ja der Durchgriff der „Biopolitik“ des Sicherheits- und Sozialstaats ungebrochen, ja er wird angesichts der politischen und sozialen Verwerfungen von einer Mehrheit in seiner miesesten Form der Diskriminierung, Schikanierung und Ausbeutung „der anderen“, der Minderleister, der Migranten, der „Ausländer“ und überhaupt aller Armen dieser Welt gewünscht, ja zum Teil stürmisch verlangt, während Menschen, die diese Brutalitäten von Herzen verabscheuen, oft genau den Verfall dieses (in seinen „Gaben“ schon reichlich dezimierten und in seinen Kontrollen immer schärfer repressiven) Sozialstaats beklagen und nach seiner „Rettung“ rufen.
Die Regel des last in first out stimmt wohl für den Kapitalismus auch. Sie bedeutet aber nicht, dass es nicht auch im „Herzen der Bestie“, in den Hochburgen der mittlerweile meist fiktiven Wertverwertung, Menschen gibt, die den Daseinsinhalt Arbeit und Konsum, die Jagd nach Geld und Status satt haben, sich für dieses fake von Leben nicht mehr kaputt machen wollen. Sie suchen an den Haarrissen des Monoliths nach Gleichgesinnten. Mit allen Illusionen und Verkennungen und hoffentlich einer Menge Frustrationstoleranz. Was da als „Solidarische Ökonomie“ (z.B. www.ochsenherz.at/wofuer-steht-solidarische-landwirtschaft/) umgeht in Europa, mag so ein Hoffnungsschimmer sein, zumindest einer werden. Er kann reichen für die oben angedeutete Fantasie. Und dafür, die Möglichkeit eines anderen, besseren Lebens auch hier wach zu halten. Und auch die Parole: Seien wir realistisch! Versuchen wir das Unmögliche!
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