von Karl Müller (zeit-fragen)
Helmut Schmidt (SPD), deutscher Bundeskanzler von 1974–1982, war zuvor von 1969–1972 deutscher Verteidigungsminister. In seine Amtszeit als Verteidigungsminister fielen die Verkürzung der Grundwehrzeit von 18 auf 15 Monate und die Gründung der Bundeswehrhochschulen. Die Jahre seiner Amtszeit als Verteidigungsminister waren geprägt von der deutschen Entspannungspolitik. Die Idee, in Europa oder sonstwo auf der Welt mit (west-)deutschen Soldaten Kriege zu führen, galt damals als vollkommen abwegig. Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) hatte schon ein paar Jahre zuvor jede militärische Beteiligung am US-Krieg in Vietnam abgelehnt, obwohl die US-Regierung starken Druck ausgeübt hatte.
50 Jahre später, im Jahr 2019, erlebt Deutschland eine Verteidigungsministerin, Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die sich über dieses Amt für eine kommende Kanzlerschaft profilieren will. Aber sie tut dies nicht mit weniger Militär, nicht mit Signalen der Entspannung und des Friedenswillens, sondern mit Aufrüstungsparolen und mit dem Versuch, die Kriegsbereitschaft der deutschen Armee, der Bundeswehr, zu erhöhen und ihre Einsatzbereiche zu erweitern.
Das Koordinatensystem
Die Politik der deutschen Verteidigungsministerin bewegt sich in einem sich verändernden innen- und aussenpolitischen Koordinatensystem, das hier nur kurz angedeutet werden kann. Wesentliches Merkmal dieses Koordinatensystem ist die Uneinigkeit sowohl innerhalb Deutschlands als auch in den internationalen Beziehungen. Nur drei Beispiele: Auch die neuesten Vorschläge der deutschen Verteidigungsministerin (siehe unten) sind in Deutschland nicht konsensfähig. Die grosse Mehrheit der Deutschen lehnt deutsche Kampfeinsätze im Ausland nach wie vor ab, und die mit der CDU konkurrierenden Parteien politisieren mit dieser deutschen Grundstimmung. Es riecht nach Vorwahlkampfzeit. Das haben die vielen kontroversen Reaktionen auf Kramp-Karrenbauers neue Vorschläge gezeigt.
Hinzu kommt die Uneinigkeit zwischen Deutschland und Frankreich. Während der französische Präsident Macron vom «Hirntod» der Nato sprach und eine mächtige europäische Armee fordert, beharrt die deutsche Politik auf einer eng bleibenden transatlantischen Anbindung der deutschen und europäischen Kriegsvorbereitungen. In der Tat ist es kaum möglich, eine sichere Aussage darüber zu machen, welchen Weg die bisherige Nato-Führungsmacht USA in den kommenden Jahren gehen wird. Die deutsche Politik distanziert sich auf eine in der bundesdeutschen Geschichte noch nie dagewesene Art und Weise vom amtierenden US-Präsidenten, unterwirft sich dabei aber nahezu total den Kräften in den USA, die mit Namen wie Clinton und Obama und dem US-Anspruch auf eine von diesen Kräften dominierte globalisierte Weltordnung verbunden sind.
Drittes Beispiel: Der Übergang zu einer multipolaren Welt, der sich vor Jahren angekündigt hat, wird von den bislang Weltmacht beanspruchenden Kräften nicht akzeptiert. Die Gefahr eines grossen Krieges um die Vormacht in der Welt ist erheblich.
Kramp-Karrenbauers weltpolitische «Analyse»
Kramp-Karrenbauers Forderungen finden sich in einem Vortrag, den sie am 7. November vor Soldaten (in der Mehrzahl Offiziere und Offiziersanwärter) in der Bundeswehrhochschule in München gehalten hat (https://www.bmvg.de/de/aktuelles/rede-der-ministerin-an-der-universitaet-der-bundeswehr-muenchen-146670). Sehr viele Medien haben diese Rede thematisiert und die Ministerin in Interviews selbst zu Wort kommen lassen. Sie spricht zu Beginn ihrer Rede von «Zeiten des Umbruchs und der Ungewissheit» und einer Welt, «die aus den Fugen geraten ist». Als vermeintliche Eckpunkte dafür listet sie auf – «die russische Aggression in der Ukraine», «die weltumspannenden Netzwerke des Terrorismus» und «den machtpolitischen Aufstieg Chinas, der mit einem Herrschaftsanspruch einhergeht – inzwischen nicht mehr nur in seiner unmittelbaren Nachbarschaft». Summa summarum: «Wir erleben derzeit eine Rückkehr von Konkurrenz grosser Mächte um Einflusssphären und Vorherrschaft.»
Kramp-Karrenbauers Analyse folgt den Vorgaben ihres Beraters Karl-Heinz Kamp, der bis vor kurzem Präsident der Bundesanstalt für Sicherheitspolitik war. Seit Oktober 2019 ist er Sonderbeauftragter des Politischen Direktors im Bundesministerium der Verteidigung. Kamps Beiträge in verschiedene deutschsprachige Zeitungen haben ihn als einen der Scharfmacher der deutschen Kriegspolitik gezeigt. Am 5. September hat er in der Zeitschrift Cicero ein stärkeres Engagement der Nato (und der Bundeswehr) in Asien gefordert, weil «der Aufstieg Chinas dramatische Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa haben wird». Während Russlands Stärke «auf tönernen Füssen» stehe und die USA zwar «faktisch Weltmacht» seien, «es aber immer weniger zu wollen» scheinen, vertrete China «seine Interessen auch jenseits der eigenen Landesgrenzen, und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten seiner Nachbarn» werde sich «Chinas wirtschaftlicher, politischer und militärischer Aufstieg weiter fortsetzen» und werde China «zur zweiten Supermacht neben den USA» heranwachsen.
Der Griff nach Asien
China werde in der Lage sein, «die derzeit noch von Amerika dominierte Weltordnung in Frage zu stellen». Das Land greife nach der ganzen Welt und bedrohe deshalb die Interessen aller, auch der europäischen Nato-Staaten. «Wenn es der Daseinszweck der Nato ist, die Sicherheit all ihrer Mitglieder zu gewährleisten und deren vitale Interessen zu verteidigen, so muss sie sich ganz grundsätzlich allen Bedrohungen der äusseren Sicherheit, ungeachtet ihres geografischen Ursprungs, stellen. Entwickeln sich Gefahren im asiatisch-pazifischen Raum, so ist eine Hinwendung der Nato zu dieser Region zwingend.» Kamp hat ein Drei-Schritte-Programm vorgeschlagen, um China einzudämmen. «Langfristig», so schreibt er, «werden die grossen europäischen Staaten […], sofern sich der weltpolitische Aufstieg Chinas auch militärisch immer deutlicher realisieren wird, nicht darum herumkommen, in einem dritten Schritt ihrerseits Fähigkeiten zur weitreichenden Machtprojektion vor allem im maritimen Bereich aufzubauen.» Seemacht Deutschland und Europa? So werde es wohl dazu kommen, «dass eine künftige Nato die Bekämpfung der Gefahren im asiatisch-pazifischen Raum als eine ihrer Kernaufgaben ansieht».
Bei Kramp-Karrenbauer heisst es entsprechend: «Unsere Partner im Indo-Pazifischen Raum […] fühlen sich von Chinas Machtanspruch zunehmend bedrängt. Sie wünschen sich ein klares Zeichen der Solidarität. […] Es ist an der Zeit, dass Deutschland ein solches Zeichen setzt, indem wir mit unseren Verbündeten Präsenz in der Region zeigen.»
Weltherrschaftspolitik vor dem Ersten Weltkrieg
Derartige Töne kommen einem bekannt vor, und man erinnert sich an die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg und das, was damals vor allem von Briten an die Wand gemalt wurde: die deutsche Gefahr. Soll es heute die russische und mehr noch die chinesische Gefahr sein? Und wie real ist das alles? Oder doch nur erneute Kriegsvorbereitungspropaganda und Verschleierung des eigenen Weltmachtanspruchs? Die Menschen sind sensibel für solche Fragen geworden. Ein kleines Büchlein, gerade eben erst erschienen und vom Frankfurter Westend-Verlag herausgegeben, gibt in deutscher Übersetzung einen Schlüsselvortrag des britischen Geostrategen Halford John Mackinder aus dem Jahr 1904 wieder: «Der Schlüssel zur Weltherrschaft. Die Heartland-Theorie.» Der ehemalige Staatsekretär im deutschen Verteidigungsministerium Willy Wimmer hat dazu im selben Buch eine Analyse zur aktuellen Lage hinzugefügt.
«Das Spektrum militärischer Mittel wenn nötig ausschöpfen» …
Kramp-Karrenbauer und die deutsche Politik stricken mit am Feindbildkonstrukt. Bei der deutschen Verteidigungsministerin lautet die Konsequenz heute nicht mehr abstrakt, Deutschland müsse «mehr Verantwortung in der Welt» übernehmen. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hatte vor ein paar Jahren noch zurücktreten müssen, als er von Kriegen für deutsche Interessen sprach. Kramp-Karrenbauer tut es heute ungestraft: Deutschland müsse «mehr tun», um seine «Werte und Interessen zu schützen», bei der «Lösung von Konflikten», also auch in Kriegen überall auf der Welt, solle sich Deutschland «früher, entschiedener und substantieller einbringen»: «Ein Land mit unserer Grösse und unserer wirtschaftlichen und technologischen Kraft, ein Land unserer geostrategischen Lage und mit unseren globalen Interessen, das kann nicht einfach nur am Rande stehen und zuschauen.» Schliesslich sei Deutschland «Handelsnation» und «auf freie und friedliche Seewege angewiesen». Das aber gebe es «nicht zum Nulltarif». Deshalb müsse Deutschland aufrüsten. Deutschland müsse «zu allen Fragen, die seine strategischen Interessen betreffen, eine Haltung entwickeln». Deutschland habe «wie jeder Staat der Welt eigene strategische Interessen. Zum Beispiel als global vernetzte Handelsnation im Herzen Europas». Deshalb müsse Deutschland «auch etwas tun und Initiative ergreifen, damit aus Haltung und Interesse Wirklichkeit werden kann.» Und: «Dazu gehört es auch, unseren gegenwärtigen sicherheitspolitischen Status quo zu hinterfragen. […] Dazu gehört letztendlich auch die Bereitschaft, gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern das Spektrum militärischer Mittel wenn nötig auszuschöpfen.»
… aber keine Uno-Charta mehr
Übrigens: Die Ministerin erwähnte in ihrem Vortrag mit keinem Wort die Uno-Charta und die darin festgeschriebene Gleichberechtigung aller souveränen Staaten der Welt, die Friedenspflicht für alle Staaten und Völker und die Ächtung des Krieges. •
Kriege für wirtschaftliche Interessen?
km. «Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Grösse mit dieser Aussenhandelsorientierung und damit auch Aussenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden, und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.»
Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler musste 2010 wegen dieser Interview-Äusserung nach erheblichen Protesten zurücktreten. Der Verfassungsrechtler Ulrich Preuss sagte damals: «Das ist eine durch das Grundgesetz schwerlich gedeckte Erweiterung der zulässigen Gründe für einen Bundeswehreinsatz um wirtschaftliche Interessen.» Das Grundgesetz hat sich diesbezüglich nicht geändert. Wo bleibt heute die deutliche Forderung nach einem Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer? … Ulrich Preuss sagte vor 9 Jahren übrigens auch: «Da ist ein imperialer Zungenschlag erkennbar. Mich erinnert das an die englischen Imperialisten des 19. Jahrhunderts, die mit ähnlichen Argumenten ihre Seeherrschaft verteidigten.»1
1 Die Zitate von Ulrich Preuss sind dem Spiegel vom 27. Mai 2010 entnommen.
Von der Leyen:
«Europa muss Sprache der Macht lernen» Annegret Kramp-Karrenbauers Vorgängerin im Amt als deutsche Verteidigungsministerin und jetzt neue Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hielt am 7. November vor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin ihre erste Grundsatzrede im neuen Amt. Eine ihrer vielfach zitierten Kernaussagen war: «Europa muss auch die Sprache der Macht lernen.»
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